Charles Bobet stand am Straßenrand neben seinem defekten Taxi, sah auf seine Uhr und fluchte. Es war halb zwei durch, höchste Zeit zum Mittagessen, und er saß hier einsam und allein auf der Straße zwischen Egletons und dem Flecken Lamaziere. Mit einer gebrochenen Vorderachse. Merde und nochmals merde. Er konnte den Wagen stehenlassen, ins nächste Dorf gehen, von dort mit dem Bus nach Egletons fahren und am Abend mit einem Abschleppwagen zurückkehren. Das allein würde ihn die Einnahmen einer Woche kosten. Aber der Wagen war nicht abzuschließen, und Bobets ganze Existenz hing von dem klapprigen Taxi ab. Da war es schon besser, sich in Geduld zu fassen und auf einen Lastwagen zu warten, der ihn — gegen ein Entgelt natürlich — nach Egletons zurückschleppen könnte, als das Auto den diebischen Dorfkindern zu überlassen, die es von vorn bis hinten durchstöbern würden. Nun, mit dem Mittagessen war es heute zwar nichts, aber im Handschuhfach befand sich noch eine Flasche Wein. Na ja, sie war jetzt schon fast alle. Unter dem Taxi herumzukriechen machte einen halt durstig. Er setzte sich in den Fond des Wagens, um zu warten. Es war glühend heiß auf der Straße, und bevor es nicht ein wenig abkühlte, würde ohnehin kein Lastwagen daherkommen. Und die Bauern hielten ihre Siesta. Er machte es sich auf den Rücksitzen bequem und war kurz darauf eingenickt.
«Wieso ist er denn immer noch nicht zurück?«brüllte Kommissar Valentin ins Telephon.»Wohin ist der Kerl nur gefahren?«Er saß im Kommissariat von Egletons und sprach mit einem seiner Untergebenen, den er im Haus des Taxifahrers postiert hatte. Die wortreiche Auskunft des Beamten klang beschwichtigend. Valentin schmetterte den Hörer auf die Gabel. Den ganzen Vormittag hindurch und auch während der Mittagsstunde waren Funkberichte von den Streifenwagen eingelaufen, deren Besatzungen die Straßensperren bewachten. Niemand, der einem blonden Engländer auch nur im entferntesten ähnlich sah, hatte den hermetischen Ring um Egletons zu passieren versucht. Jetzt lag das Marktstädtchen wie ausgestorben in der hochsommerlichen Hitze da und döste seelenruhig, als sei es von den zweihundert Polizeibeamten aus Ussel und Clermont-Ferrand nie in seinem Frieden gestört worden.
Bis Ernestine schließlich ihren Willen bekam, war es 4 Uhr nachmittags geworden.
«Du mußt da noch mal hinaufsteigen und Madame wecken«, drängte sie Louison.»Es ist unnatürlich, den ganzen Tag zu verschlafen.«
Der alte Louison, der sich nichts Besseres vorstellen konnte, als genau das zu tun, war zwar anderer Meinung, aber er wußte, daß es zwecklos war, Ernestine etwas ausreden zu wollen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. So stieg er also nochmals — und diesmal weniger schwankend — die Leiter empor, öffnete das Fenster und trat ins Zimmer. Ernestine schaute von unten zu.
Nach ein paar Minuten erschien der Kopf des alten Mannes im Fenster.
«Ernestine«, rief er heiser,»Madame scheint tot zu sein.»Er war im Begriff, die Leiter wieder hinunterzusteigen, als Ernestine ihm zurief, er solle die Schlafzimmertür von innen aufschließen. Gemeinsam lugten sie über den Rand der Bettdecke und betrachteten Madames Augen, die starr auf ein nur wenige Zentimeter entferntes Kissen gerichtet waren.
Ernestine übernahm das Kommando.
«Louison.«
«Ja, meine Liebe.«
«Lauf schnell ins Dorf und hole Doktor Mathieu. Beeil dich.«
Wenige Minuten später radelte Louison, so rasch seine alten Beine es erlaubten, die Auffahrt hinunter. Er traf Dr. Mathieu, der seit vierzig Jahren sämtliche Gebrechen, Krankheiten und Unpäßlichkeiten der Leute von Haute Chalonniere behandelte, im Schatten eines Aprikosenbaums in seinem Garten schlafend an, und der alte Landarzt sagte zu, sogleich zu kommen. Es war 16 Uhr 30, als sein Wagen auf den Schloßhof rollte. Fünfzehn Minuten später richtete er sich nach abgeschlossener Untersuchung der Leiche auf und wandte sich den beiden Hausangestellten zu, die auf der Schwelle der Schlafzimmertür stehengeblieben waren.»Madame ist tot«, erklärte er mit zitternder Stimme.»Ihr Genick ist gebrochen. Wir müssen den Gendarmen holen.«
Gendarm Caillou war ein Mann von Methode. Er wußte, welcher Ernst seiner Aufgabe, den Arm des Gesetzes zu verkörpern, zukam und wie wichtig es war, alle Tatsachen klarzustellen. Nachdem man sich an den Küchentisch gesetzt hatte, nahm er die Aussagen Ernestines, Louisons und Dr. Mathieus zu Protokoll.
«Es besteht kein Zweifel«, sagte er, als der Doktor seine Erklärung unterschrieben hatte,»daß ein Mord begangen wurde. Verdächtig ist in erster Linie offenkundig der blonde Engländer, der sich hier aufgehalten hat und mit Madames Wagen davongefahren ist. Ich werde die Sache sofort dem Hauptquartier in Egletons melden.«
Und er radelte den Hügel hinunter ins Dorf zurück.
Um 18 Uhr 30 rief Claude Lebel Kommissar Valentin aus Paris an. »Alors, Valentin?«
«Noch nichts«, antwortete Valentin.»Seit dem späten Vormittag haben wir alle Straßen und Wege, die aus der Gegend herausführen, blockiert. Er muß noch im Sperrgebiet sein, es sei denn, er ist sehr weit gekommen, nachdem er den Wagen stehengelassen hat. Dieser dreimal verfluchte Taxifahrer, der ihn am Freitag gefahren hat, ist noch immer nicht aufgetaucht. Ich habe Streifen losgeschickt, damit sie die Straßen in der Umgebung nach ihm absuchen — Augenblick mal, eben kommt gerade eine neue Meldung.«
Lebel konnte Valentin mit jemandem im Hintergrund reden hören, der sehr schnell sprach. Dann meldete sich Valentins Stimme wieder am Apparat.
«Himmelherrgott, was wird denn hier nur gespielt? Es ist ein Mord passiert.«
«Wo?«fragte Lebel mit sofort erwachtem Interesse.
«Auf einem Schloß in der Umgebung. Die Meldung ist gerade eben vom Dorfpolizisten durchgegeben worden.«
«Wer ist das Opfer?«
«Die Schloßherrin. Warten Sie — eine Baronin de la Chalonniere.«
Caron sah Lebel blaß werden.
«Valentin, hören Sie zu. Das war er. Ist er schon aus dem Schloß entkommen?«
Wieder gab es eine kurze Beratung im Polizeikommissariat von Egletons.
«Ja«, sagte Valentin dann.»Er ist heute morgen im Wagen der Baronin weggefahren. Ein kleiner Renault. Der Gärtner hat die Leiche gefunden, aber erst heute nachmittag. Er hatte gedacht, die Baronin schliefe noch. Dann ist er durchs Fenster geklettert und hat sie entdeckt.«
«Haben Sie die polizeilichen Kennzeichen und die Beschreibung des Wagens?«fragte Lebel.»Ja.«
«Dann geben Sie Großalarm. Zur Geheimhaltung besteht keine Notwendigkeit mehr. Jetzt machen wir regelrecht Jagd auf einen Mörder. Ich werde sofort Alarm für das gesamte Staatsgebiet auslösen lassen. Aber versuchen Sie unbedingt, die Spur noch in der Nähe des Tatorts aufzunehmen, wenn Sie irgend können. Sehen Sie zu, daß Sie auf jeden Fall seine generelle Fluchtrichtung feststellen.«
«Wird gemacht. Jetzt können wir richtig loslegen.«
Lebel hängte ein.
«Mein Gott, ich werde alt. Der Name der Baronin stand auf der Gästeliste des Hotel du Cerf für die Nacht, die der Schakal dort verbracht hat. «Der Renault wurde von einem Verkehrspolizisten um 19 Uhr 30 in Tülle in einer Nebenstraße entdeckt. Es war 19 Uhr 45, als er sich im Kommissariat zurückmeldete, und 19 Uhr 55, als Tülle sich mit Valentin in Verbindung setzte. Um 20 Uhr 05 rief der Kommissar der Auvergne Lebel an.
«Etwa fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt«, berichtete er.
«Haben Sie einen Fahrplan zur Hand?«
«Ja, es müßte hier irgendwo einer vorhanden sein.«