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Dr. McGowan beschloss, ihn nicht zu beachten, und schrieb die nächsten zehn Minuten weiter in seine Akten.

Nach und nach kamen die anderen Studenten ins Labor und gingen schnurstracks zu ihren Plätzen. Einige waren bereits blass, denn die Gerüche im Saal förderten Ängste und Zwangsvorstellungen.

Pünktlich zur vollen Stunde legte Dr. McGowan die Feder weg und stellte sich vor den Tisch. »Gentlemen«, sagte er. Sobald im Saal Stille herrschte, stellte er sich vor. »In diesem Kurs studieren wir die Toten, um mehr über die Lebenden zu erfahren und ihnen helfen zu können. Die ersten Berichte über solche Studien reichen zurück bis zu den frühen Ägyptern. Sie sezierten die Leichen der Unglücklichen, die als Menschenopfer getötet wurden. Doch die eigentlichen Väter der anatomischen Wissenschaft sind die alten Griechen. In Alexandria gab es eine berühmte medizinische Akademie, in der Herophilus von Chalcedon die menschlichen Organe und Eingeweide erforschte. Er gab dem Calamus scriptorius und dem Duodenum ihre Namen.«

Dr. McGowan war sich bewusst, dass der junge Mann auf dem Mittelplatz der ersten Reihe seinen Mund nicht aus den Augen ließ, er hing förmlich an seinen Lippen. In schwungvoller Rede berichtete der Professor vom Verschwinden der Anatomie in der abergläubischen Finsternis des Mittelalters und von ihrer Renaissance im siebzehnten Jahrhundert. Der Schlussteil seiner Vorlesung handelte davon, dass der Wissenschaftler einen Körper, den die Seele verlassen hat, ohne Furcht, aber mit Achtung behandeln müsse. »In meinen Studententagen in Schottland pflegte mein Professor den Körper nach dem Tod mit einem Haus zu vergleichen, dessen Besitzer ausgezogen ist. Er sagte, die Leiche müsse mit Sorgfalt und Würde behandelt werden, aus Respekt vor der Seele, die in diesem Haus gewohnt hat.« Dr. McGowan ärgerte sich, als er sah, dass der Junge in der ersten Reihe lächelte. Dann befahl er den Studenten, sich je ein Präparat aus dem Behälter und ein Skalpell zu nehmen, das anatomische Objekt zu sezieren und eine Zeichnung davon anzufertigen, die am Ende der Stunde abgegeben werden solle. Wie immer in der ersten Stunde gab es einen Augenblick des Zögerns, in dem die Studenten ihren Widerwillen überwinden mussten. Aber auch jetzt machte der junge Mann, der als erster den Hörsaal betreten hatte, den Anfang, denn er stand sofort auf und holte sich das beiseite geschaffte Präparat aus dem Behälter sowie das scharfe, leicht abgerückte Skalpell vom Tisch. Während die anderen noch in der Lake herumstocherten, richtete er sich bereits an dem Seziertisch mit dem besten Licht ein. Dr. McGowan wusste sehr gut, welche Belastung diese erste Anatomiestunde für die Studenten darstellte. Er war an den süßlichen Geruch gewöhnt, der aus dem Behälter hochstieg, aber er kannte auch dessen Wirkung auf Uneingeweihte. Einige der Studenten standen vor einer fast unlösbaren Aufgabe, denn viele Präparate waren in einem so schlechten Zustand, dass sie kaum gut seziert und präzise gezeichnet werden konnten, und er zog das mit in Betracht. Die Übung war als Disziplinarmaßnahme gedacht gleich der Feuertaufe frischer Soldaten. Es war eine Probe ihrer Fähigkeit, Unangenehmes und Widerwärtiges zu ertragen, und die herbe, aber notwendige Botschaft, dass die Arbeit eines Arztes sich nicht im Kassieren von Honoraren und dem Genuss einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft erschöpfte. Nach wenigen Minuten hatten bereits einige den Raum verlassen, darunter ein junger Mann, der in größter Eile hinausstürzte. Doch zu Dr. McGowans Befriedigung kehrten nach einer Weile alle wieder zurück. Fast eine Stunde lang ging er zwischen den Tischen umher und überwachte den Fortschritt ihrer Arbeit. Unter den Studenten waren einige reife Männer, die nach einer Lehrzeit bereits Medizin praktiziert hatten; denen blieben die Übelkeitsanfälle weitgehend erspart. Aus Erfahrung wusste Dr. McGowan, dass einige von ihnen hervorragende Ärzte werden würden, doch als er sah, wie einer dieser Älteren, ein Mann namens Ruel Torrington, eine Schulter attackierte, seufzte er nur, denn er dachte an die chirurgischen Katastrophen, die dieser Mann hinterlassen haben musste.

Am letzten Tisch, an dem ein dicker Student schwitzend einen Kopf bearbeitete, der fast nur noch Schädel war, blieb er einen Augenblick länger stehen. Dem Dicken gegenüber saß der Taube. Er besaß offensichtlich bereits Erfahrung, denn er hatte das Skalpell geschickt dazu benutzt, den Arm in Schichten zu öffnen. Diese Geschicklichkeit deutete auf ein anatomisches Vorwissen hin, das McGowan ebenso freute wie überraschte. Er sah, dass die Gelenke, Muskeln, Nerven und Blutgefäße in der Zeichnung sauber dargestellt und beschriftet waren. Eben schrieb der junge Mann seinen Namen auf das Blatt und reichte es dem Professor: Cole, Robert J.

»Ja. Ah, Cole, in Zukunft sollten Sie etwas größer schreiben!«

»Ja, Sir«, sagte Cole laut und deutlich. »Sonst noch etwas?«

»Nein. Sie können Ihr Präparat in den Behälter zurücklegen und Ihren Platz säubern. Danach können Sie gehen.«

Diese Entlassung verleitete einige Studenten dazu, ihr Blatt ebenfalls abzugeben, doch Dr. McGowan schickte sie alle mit Verbesserungsvorschlägen zurück. Während er sich mit den Studenten unterhielt, beobachtete er Cole. Nachdem der Taube sein Präparat in den Behälter zurückgelegt hatte, wusch und trocknete er sein Skalpell ab und legte es an seinen Platz zurück. Er trug eine Schüssel mit Wasser zum Seziertisch und schrubbte den Teil, den er benutzt hatte. Dann nahm er frisches Wasser und Kernseife und wusch sich gründlich Hände und Arme, bevor er die Ärmel herunterkrempelte.

Beim Hinausgehen blieb Cole kurz bei dem dicken Jungen stehen und studierte dessen Zeichnung. Dr.

McGowan sah, dass er sich hinunterbeugte und etwas flüsterte. Aus dem Gesicht des anderen Jungen wich ein Teil der Verzweiflung, und er nickte, als Cole ihm auf die Schulter klopfte. Dann machte sich der Dicke wieder an die Arbeit, und der Taube verließ den Saal.

Herztöne

Für Shaman war die Medical School beinahe wie ein weit entferntes, fremdes Land, in das nur gelegentlich beängstigende Gerüchte über den bevorstehenden Krieg in den Vereinigten Staaten drangen. Er hörte von einer Friedenskonferenz in Washington, D.C., an der einhunderteinunddreißig Delegierte aus einundzwanzig Staaten teilnehmen sollten. Doch am Morgen der Eröffnung dieser Konferenz konstituierte sich in Montgomery, Alabama, der Provisorische Kongress der Konföderierten Staaten von Amerika. Einige Tage später stimmten die Konföderierten für einen Abfall von den Vereinigten Staaten, und im ganzen Land setzte sich die erschreckende Erkenntnis durch, dass es Krieg geben werde.

Shaman konnte den Problemen der Nation allerdings nur flüchtige Aufmerksamkeit schenken, er kämpfte seinen ganz persönlichen Überlebenskampf. Glücklicherweise war er ein guter Student. Nachts saß er über seinen Büchern, bis er nichts mehr sah, und fast jeden Morgen lernte er schon vor dem Frühstück einige Stunden. Die Vorlesungen wurden montags bis samstags von zehn bis eins und von zwei bis fünf gehalten. Oft fanden sie vor oder während der Behandlungszeiten in den sechs Spezialkrankenhäusern statt, die der Poliklinik ihren Namen gaben: am Dienstagnachmittag Erkrankungen der Brust; am Dienstagabend Geschlechtskrankheiten; am Donnerstagnachmittag Kinderkrankheiten; am Donnerstagabend Frauenleiden; am Samstagvormittag Chirurgie; und am Samstagnachmittag Allgemeinmedizin. Am Sonntagnachmittag beobachteten die Studenten die Arbeit der Ärzte auf den Stationen.

An Shamans sechstem Samstag in der Poliklinik referierte Dr. Meigs über den Gebrauch des Stethoskops. Meigs hatte in Frankreich bei Ärzten studiert, die vom Erfinder dieses Instruments persönlich unterrichtet worden waren. Er erzählte den Studenten, dass eines Tages im Jahr 1816 ein Arzt namens Rene Laennec, weil er sein Ohr nicht an die Brust einer großbusigen und verlegenen Patientin legen wollte, ein Blatt Papier zusammenrollte und die so entstandene Röhre mit einem Faden zusammenband. Als Laennec das eine Ende der Röhre an die Brust der Patientin hielt und am anderen Ende horchte, stellte er überrascht fest, dass er auf diese Weise nicht schlechter hörte, sondern die Geräusche sogar verstärkt an sein Ohr drangen. Meigs berichtete weiter, dass Stethoskope bis vor kurzem nur einfache Holzröhren gewesen seien, durch die der Arzt nur mit einem Ohr hören konnte. Er selbst besaß jedoch eine modernere Version des Instruments, bestehend aus einer Röhre aus gewirkter Seide mit einer Gabelung und zwei Hörenden aus Elfenbein für beide Ohren. Bei den Patientenuntersuchungen nach den Vorlesungen benutzte Dr. Meigs ein Stethoskop mit einer zusätzlichen Röhre, so dass der Professor und ein Student gleichzeitig auf die Brustgeräusche eines Patienten lauschen konnten. Jeder Student erhielt Gelegenheit zum Horchen, doch als Shaman an die Reihe kam, sagte er dem Medizinprofessor, es habe keinen Zweck. »Ich würde nichts hören.«