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Er und Paul Cooke wurden Freunde. In studentischen und medizinischen Dingen war Shaman der Ratgeber und Führer, in allen anderen übernahm Cooke die Leitung. Paul führte Shaman in Restaurants und ins Theater. Voller Ehrfurcht gingen sie in Pike’s Opera House, um Edwin Thomas Booth als Richard III. zu sehen. Das Opernhaus mit seinen drei Rängen hatte dreitausend Sitzplätze und weitere tausend Stehplätze. Auch von den Plätzen in der achten Reihe aus, die Cooke dem Kartenverkäufer abgeluchst hatte, wäre es Shaman nicht möglich gewesen, das Stück zu verstehen, doch er hatte im College alle Shakespeare-Dramen gelesen und überflog dieses Stück vor der Aufführung noch einmal. So war er mit der Handlung und den Dialogen vertraut, und er genoss den Abend sehr.

An einem anderen Samstagabend führte Cooke ihn in ein Bordell, wo Shaman einer schweigsamen Frau in ihr Zimmer folgte und von ihr schnell abgefertigt wurde. Die Frau verlor die ganze Zeit über ihr starres Lächeln nicht und sagte kaum ein Wort. Danach verspürte Shaman nie mehr das Bedürfnis, in dieses Haus zurückzukehren, doch da er normal entwickelt und gesund war, stellte das sexuelle Verlangen manchmal ein Problem für ihn dar.

Die Studenten hatten die Pflicht, als Sanitäter Dienst zu tun, und so fuhr Shaman eines Tages mit dem Krankenwagen zur P. L. Trent Candle Company, einer Kerzenfabrik, in der Frauen und Kinder arbeiteten, um einen dreizehnjährigen Jungen zu behandeln, dem kochendes Wachs die Beine verbrannt hatte. Als sie den Jungen ins Krankenhaus brachten, begleitete sie eine junge Frau mit pfirsichfarbener Haut und schwarzen Haaren, die auf einen Teil ihres Tageslohnes verzichtete, um bei dem Patienten, ihrem Cousin, sein zu können.

Während der wöchentlichen Besuchszeit am Donnerstagabend sah Shaman sie wieder. Da auch andere Verwandte den verbrannten Jungen trösten wollten, war ihr Besuch nur kurz, und Shaman hatte Gelegenheit, mit ihr zu reden. Sie hieß Hazel Melville. Obwohl er es sich eigentlich nicht leisten konnte, lud er sie für den folgenden Sonntag zum Essen ein. Anfangs tat sie so, als sei sie entsetzt, doch dann lächelte sie zufrieden und nickte.

Sie wohnte, nicht weit vom Krankenhaus entfernt, im zweiten Stock eines Mietshauses, das dem Studentenwohnheim sehr ähnlich war. Ihre Mutter war tot. Shaman war befangen wegen seiner gutturalen Aussprache, denn ihr rotgesichtiger Vater, ein Gerichtsvollzieher, betrachtete ihn mit kaltem Argwohn, offensichtlich wusste er nicht so recht, was er von Hazels Verehrer halten sollte. Wenn es wärmer gewesen wäre, hätte er sie zu einer Bootsfahrt auf dem Fluss eingeladen. Vom Wasser her wehte ein kühler Wind, doch sie trugen Mäntel, und so wurde es ein angenehmer Spaziergang. Im schwächer werdenden Licht des Abends sahen sie sich Schaufenster an. Sie ist sehr hübsch, dachte er, bis auf die dünnen, strengen Lippen, von denen sich feine Linien dauernder Unzufriedenheit in ihre Mundwinkel gruben. Sie war entsetzt, als sie von seiner Taubheit erfuhr, und lächelte unsicher, als er ihr erklärte, wie er von den Lippen ablas. Trotzdem fand er es angenehm, mit einer Frau zu sprechen, die nicht krank oder verletzt war. Sie erzählte, dass sie seit einem Jahr Kerzen ziehe, sie hasse dies, aber es gebe ja kaum eine andere Arbeit für eine Frau. Ihre beiden älteren Cousins hätten für gutes Geld Arbeit bei Wells & Company gefunden, ergänzte sie verärgert. »Wells & Company hat von der Army von Indiana den Auftrag bekommen, zehntausend Fass Minie-Musketengeschosse zu gießen. Wenn die doch nur Frauen beschäftigen würden!«

Sie aßen in einem kleinen Restaurant, das Cooke ihm empfohlen hatte, weil es billig war und hell, so dass er ihre Lippen gut sehen konnte. Es schien ihr zu schmecken, allerdings ließ sie die Brötchen zurückgehen, weil sie nicht frisch seien, wie sie dem Kellner in scharfem Ton zu verstehen gab. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, war ihr Vater nicht zu Hause. Sie machte es Shaman leicht, sie zu küssen, und ging bereitwillig darauf ein, so dass es ihm ganz natürlich erschien, sie durch die Kleider hindurch zu streicheln und sie schließlich auf dem unbequemen Fransensofa zu lieben. Aus Angst, ihr Vater könne zurückkommen, ließ sie das Licht an, und sie zog sich auch nicht aus, sondern schob nur Rock und Unterrock über die Taille hoch. Ihr weiblicher Geruch wurde überlagert vom Myrteduft des Paraffins, in das sie sechs Tage der Woche Dochte tauchte. Shaman nahm sie hart und schnell, ohne die geringste Freude dabei zu empfinden, beständig die Gefahr einer ärgerlichen Unterbrechung durch den Gerichtsvollzieher vor Augen. Er verspürte nicht mehr menschliche Nähe als bei der Frau im Bordell.

Danach dachte er sieben Wochen lang kein einziges Mal an Hazel. Doch eines Nachmittags regte sich wieder das vertraute Verlangen, und er ging in die Kerzenfabrik, um sie zu besuchen. Die Luft im Inneren war heiß vom Fettdampf und schwer vom konzentrierten Myrtenduft. Hazel Melville wurde wütend, als sie ihn sah. »Ich darf doch hier keinen Besuch haben! Willst du, dass sie mich entlassen?« Doch bevor er ging, sagte sie ihm noch schnell, dass sie sich nicht mehr mit ihm werde treffen können, denn in den Wochen, in denen er nichts hatte hören lassen, sei sie einem anderen Mann versprochen worden, einem, den sie schon lange kenne. Er habe einen gehobenen Beruf, er sei ein Buchhalter, sagte sie zu ihm und versuchte gar nicht, ihre Befriedigung zu verbergen.

Im Grunde genommen lenkte ihn sein körperliches Verlangen weniger ab, als er erwartet hatte. Er richtete alles -

seine Sehnsucht und sein Verlangen, seine Hoffnungen und seine Glückserwartungen, seine Kraft und seine Phantasie - auf das Studium der Medizin. Cooke sagte mit unverhülltem Neid, dass Robert J. Cole der geborene Medizinstudent sei, und Shaman widersprach ihm nicht, hatte er doch sein ganzes Leben auf etwas gewartet, das er hier in Cincinnati gefunden hatte. Er gewöhnte es sich an, im Obduktionssaal vorbeizuschauen, sooft er eine freie Stunde hatte, manchmal allein, doch öfters mit Cooke oder Billy Henned, um ihnen bei der Verbesserung ihrer Seziertechnik zu helfen oder ihnen etwas zu demonstrieren, das sie in einem Buch gelesen oder in einer Vorlesung gehört hatten. Schon bald nach der ersten Anatomiestunde hatte Dr. McGowan Shaman gebeten, Studenten, die Schwierigkeiten hatten, zu helfen. Shaman wusste, dass er auch in den anderen Fächern exzellente Noten hatte, und inzwischen nickte ihm sogar Dr. Meigs freundlich zu, wenn sie sich auf dem Gang begegneten.

Die Leute hatten sich an sein Anderssein gewöhnt. Manchmal kam es vor, dass er, wenn er sich während einer Vorlesung oder im Labor stark konzentrierte, nach alter Gewohnheit vor sich hinzusummen begann, ohne es zu merken. Bei einer solchen Gelegenheit hatte Dr. Berwyn einmal seinen Vortrag unterbrochen und gesagt:

»Hören Sie auf zu summen, Mr. Cole!« Anfangs hatten die anderen Studenten noch gekichert, doch sie gewöhnten es sich bald an, ihn am Arm zu berühren oder ihn scharf anzusehen, damit er verstummte. Es machte ihm Freude, alleine durch die Krankensäle zu gehen. Eines Tages beklagte sich eine Patientin, dass er an ihr vorbeigegangen sei, ohne sie zu beachten, obwohl sie wiederholt seinen Namen gerufen habe. Um sich selbst zu beweisen, dass seine Taubheit den Patienten nicht unbedingt zum Nachteil gereichen musste, gewöhnte er es sich nach diesem Vorwurf an, bei jedem Bett kurz stehenzubleiben, die Hände des Patienten zu ergreifen und ein paar tröstende Worte zu sagen. Das drohende Gespenst der Probezeit hatte er längst hinter sich gelassen, als Dr.

McGowan ihm eines Tages für die Sommerferien im Juli und August eine Stelle im Krankenhaus anbot.

McGowan gestand ihm freimütig, dass er und Dr. Berwyn nahe daran gewesen seien, um seine Dienste zu wetteifern, dann aber zu dem Entschluss gekommen seien, sich ihn zu teilen. »Sie würden den Sommer über für uns beide arbeiten. Vormittags erledigen Sie für Berwyn im Operationssaal das Grobe, und nachmittags helfen Sie mir, seine Fehler zu sezieren.« Es war eine großartige Chance, das sah Shaman sofort, und mit dem bescheidenen Gehalt würde er die Erhöhung der Studiengebühren ausgleichen können. »Ich würde es sehr gern tun«, sagte er zu Dr. McGowan. »Aber mein Vater erwartet, dass ich diesen Sommer nach Hause komme und auf der Farm helfe. Ich muss ihm erst schreiben und ihn um Erlaubnis bitten.«