Im achten Distrikt war es schwierig, klinische Sauberkeit aufrechtzuerhalten. Rob J. hatte zwar Tücher und Kernseife in seiner Tasche, wusch sich oftmals am Tag die Hände und reinigte seine Instrumente, aber die Armut und ihre Folgen machten den Distrikt zu einem Ort, an dem die Gefahr, krank zu werden und zu sterben, groß war. Er versuchte, sich mit der alltäglichen ärztlichen Arbeit zu betäuben, doch wenn ihm dann wieder seine persönliche Notlage in den Sinn kam, fragte er sich, ob er nicht geradewegs auf seine Selbstzerstörung hinarbeite. In Schottland hatte er durch seine Einmischung in die Politik Verbindungen und Karriere geopfert, und hier in Amerika besiegelte er seinen Ruin mit dieser katastrophalen Schwangerschaft. Margaret Holland ging die Situation von der praktischen Seite an. Sie fragte ihn nach seinen Einkünften und war alles andere als bestürzt, als er ihr sein Jahresgehalt nannte - die dreihundertfünfzig Dollar schienen ihr mehr als ausreichend zu sein. Dann wollte sie etwas über seine Familie wissen.
»Mein Vater ist tot. Meiner Mutter ging es sehr schlecht, als ich Schottland verließ, und ich bin mir sicher, dass sie inzwischen... Ich habe einen Bruder. Er bewirtschaftet den Familienbesitz in Kilmar-nock. Er züchtet Schafe.
Ihm gehört das Anwesen.« Sie nickte. »Ich habe einen Bruder, der in Belfast lebt. Er ist Mitglied im Young Ireland und immer in Schwierigkeiten.« Ihre Mutter war tot, in Irland lebten noch der Vater und drei weitere Brüder, ein fünfter Bruder wohnte in Boston im Viertel am Fort Hill. Sie fragte schüchtern, ob sie ihrem Bruder nicht von Rob erzählen und ihn bitten solle, sich nach einem Zimmer für sie beide umzusehen, vielleicht in der Nähe seiner Wohnung.
»Nicht jetzt schon. Dazu ist später noch genug Zeit«, sagte er und streichelte ihr aufmunternd die Wange.
Die Vorstellung, im achten Distrikt wohnen zu müssen, entsetzte ihn. Er wusste, wenn er ein Arzt für die armen Einwanderer bleiben würde, konnte er nur in einem solchen Pferch das Überleben für sich, eine Frau und ein Kind sichern. Am nächsten Morgen betrachtete er den Distrikt mit Angst und Wut, und eine Verzweiflung wuchs in ihm, die der Hoffnungslosigkeit, die ihm überall in den armseligen Straßen und Gassen begegnete, in nichts nachstand.
Er begann, nachts unruhig zu schlafen und schlecht zu träumen. Zwei Träume kehrten immer wieder. In besonders schlimmen Nächten hatte er beide. Danach lag er jedesmal wach und rief sich alle Einzelheiten genau ins Gedächtnis, bis er nicht mehr wusste, ob er wach war oder schlief: Früher Morgen. Graues Wetter, aber die Sonne bricht durch. Er steht unter einigen tausend Männern vor den Carron Iron Works, die großkalibrige Schiffskanonen für die englische Marine herstellen. Es fängt gut an. Ein Mann auf einer Kiste liest das Pamphlet, das Rob J. anonym verfasst hat, um die Männer zur Demonstration aufzurufen: »Freunde und Landsleute.’ Erwacht aus dem Zustand, in dem wir so viele Jahre gehalten wurden!
Wir sehen uns nun angesichts unserer verzweifelten Lage und der Verachtung, mit der unsere Bittschriften gestraft wurden, gezwungen, unter Einsatz unseres Lebens für unsere Rechte zu kämpfen.« Der Mann spricht mit hoher und überschnappender Stimme, man merkt ihm an, dass er Angst hat. Am Ende wird er bejubelt. Drei Dudelsackpfeifer spielen, und die versammelte Menge singt beherzt, zuerst Kirchenlieder und dann Kühneres, zuletzt »Scots Wha’Hae Wz’ Wallace Bled«. Die Behörden kennen Rob J.s Pamphlet und haben Vorkehrungen getroffen. Bewaffnete Polizei ist anwesend, Miliz, das 1. Bataillon der Rifle Brigade und die gut ausgebildeten Kavalleriesoldaten des 7. und des 10. Husarenregiments, alles Veteranen der Kriege auf dem Festland. Die Soldaten tragen prächtige Uniformen. Die hohen, polierten Stiefel der Husaren funkeln wie dunkle Spiegel. Die Soldaten sind jünger als die Polizisten, aber in ihren Gesichtern spiegelt sich die gleiche verhärtete Verachtung.
Die Unruhen beginnen, als Rob J.s Freund Andrew Gerould aus Lanark eine Rede hält und über die Zerstörung der Farmen spricht sowie über den zum Leben nicht ausreichenden Hungerlohn der Männer für eine Arbeit, die England immer reicher macht und Schottland immer ärmer. Während Andrew sich in Rage redet, fangen die Männer an, ihrem Zorn lautstark Luft zu machen und zu schreien: »Freiheit oder Tod!« Die Berittenen drängen die Demonstranten mit ihren Pferden von dem Zaun weg, der die Stahlhütte umgibt. Jemand wirft einen Stein. Er trifft einen Husaren, der aus dem Sattel stürzt. Sofort ziehen die anderen Berittenen rasselnd ihre Säbel, und in einem Hagel von Steinen stürzen weitere Soldaten zu Boden. Dunkles Blut befleckt das Blau, Rot und Gold der Uniformen. Die Miliz beginnt zu feuern. Die Kavalleristen hauen mit ihren Säbeln auf die Demonstranten ein.
Die Männer schreien und weinen. Rob J. ist eingeklemmt. Er kann nicht fliehen. Er kann sich nur von der Masse, die die wütend heranstürmenden Soldaten vor sich hertreiben, mitschleifen lassen, und er muss darauf achten, nicht zu stolpern, denn er weiß, wenn er stürzt, trampelt die entsetzt davonstürmende Menge ihn nieder.
Der zweite Traum ist noch schlimmer.
Wieder befindet er sich inmitten einer großen Versammlung. So viele Leute wie vor der Stahlhütte, aber diesmal sind es Männer und Frauen, die um acht Galgen stehen. Sie ragen vor dem Stirling Castle in den Himmel, und die Menge wird von Miliz in Schach gehalten. Ein Priester, Dr. Edward Bruce aus Renfrew, sitzt auf einem Stuhl und liest schweigend. Ihm gegenüber hockt ein Mann in Schwarz. Rob J. erkennt ihn, kurz bevor er sein Gesicht hinter einer schwarzen Maske verbirgt. Er heißt Bruce Irgendwer und ist ein verarmter Medizinstudent, der fünfzehn Pfund für den Henkersdienst erhält. Dr. Bruce stimmt den einhundertdreißigsten Psalm an: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« Jeder der Verurteilten erhält, wie es der Brauch ist, ein Glas Wein und wird dann zu dem Podest geführt, wo acht Särge bereitstehen. Sechs Gefangene ziehen es vor, nichts mehr zu sagen. Ein Mann namens Hardie lässt den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen und sagt mit gedämpfter Stimme:
»Ich sterbe als Märtyrer für die Gerechtigkeit.« Andrew Gerould dagegen spricht laut und deutlich. Er wirkt müde und älter als seine dreiundzwanzig Jahre. »Meine Freunde, ich hoffe, von euch ist keiner verletzt. Wenn dies vorbei ist, geht bitte still nach Hause und lest in eurer Bibel.« Dann werden ihnen die Augen verbunden.
Zwei der Männer rufen noch etwas zum Abschied, während man ihnen die Schlingen um den Hals legt. Andrew sagt nichts mehr. Auf ein Signal hin geschieht es, und fünf sterben ohne Todeskampf. Drei zappeln noch eine Weile. Andrews Neues Testament fällt aus seinen tauben Fingern in die schweigende Menge. Nachdem man die Leichen abgeschnitten hat, trennt der Henker die Köpfe mit einer Axt ab, hält jedes der schauerlichen Objekte an den Haaren hoch und ruft, wie das Gesetz es befiehlt: »Das ist der Kopf eines Verräters!«