Rob J. suchte ebenfalls das Postzelt auf. »Heute früh traf ich einen Händler, der richtigen Käse dabei hatte«, erklärte er Amasa Decker.
»Ich habe ein Stück davon in Ihr Zelt gebracht.«
»Das ist aber nett, Doc«, freute sich Decker.
»Ich muss doch für meine Bahrenträger sorgen, oder? Gehen Sie lieber, und essen Sie ihn, bevor ihn ein anderer entdeckt. Ich vertrete Sie inzwischen gerne hier.«
So einfach ging es also. Decker war kaum hinausgeeilt, als Rob J. sich schon den Kasten mit der ausgehenden Post vornahm. Er brauchte nicht lange, um den Umschlag zu finden und in sein mee-shome zu stecken.
Als er wieder allein in seinem eigenen Zelt war, nahm er das Kuvert heraus und öffnete es. Es war an Rev David Goodnow, Bridgeton Street 237, Chicago, Illinois adressiert.
Lieba Mr. Goodnow,
Lanning Ordway. Ich bin beim 119. Indiana, wenn Sie sich erinnan. Hier isn Mann, dern Haufn Fragn stellt. N
Doktor. Heißt Robat Col. Will über Henry Bescheid wissn. Redet n Haufn komisches Zeug. Hab ihn beobachtet.
Löchat mich wegn L.wood Padson. Sagt, wir hättn das Indjanermädel umgebracht damals in Illinois. Hab ne Menge Möglichkeitn, ihn auszuschaltn. Aba ich benutz mein Kopf und lass Sies wissn, damit Sie rausfinn könn, wie er was über uns rausgefunn hat. Ich bin Sgt. Wenn da Krieg aus is, werd ich wieda fürn Order arbeitn.
Lanning Ordway
Über den Rappahannock
Rob J. wurde sich quälend bewusst, dass es mitten im Krieg, wo es überall von Waffen wimmelte und selbst Massenmorden keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, für einen erfahrenen Killer wirklich viele Möglichkeiten und Gelegenheiten gab, ihn »auszuschalten«. Vier Tage lang bemühte er sich, darauf zu achten, was hinter seinem Rücken vorging, und fünf Nächte döste er entweder nur oder blieb gänzlich wach.
Er lag da und überlegte, wie Ordway wohl vorgehen würde. Er an seiner Stelle hätte gewartet, bis sie beide inmitten eines heftigen Scharmützels gewesen wären, wo viel geschossen wurde. Allerdings hatte er keine Ahnung, ob Ordway nicht vielleicht ein Messerstecher war. Hätte man Rob J. nach einer langen, dunklen Nacht, in der jeder nervöse Posten jeden Schatten für einen aus den Reihen der Konföderierten hielt, erstochen oder mit durchschnittener Kehle aufgefunden, hätte das kaum Überraschung hervorgerufen und sicher zu keinen intensiven Nachforschungen über den Hergang der Tat geführt. Die Lage änderte sich am 19. Januar, als die B-Kompanie der Zweiten Brigade zu einem Spionagevorstoß über den Rappahannock losgeschickt wurde, den sie schnell hinter sich bringen sollte. Das Vorhaben klappte jedoch nicht. Die Infanteriekompanie stieß nämlich auf starke Konföderiertenstellungen, wo sie überhaupt keine Rebellen erwartet hatte, und wurde durch feindlichen Beschuss in offenem Gelände festgenagelt.
Es war eine Wiederholung der Situation, in der sich das gesamte Regiment einige Wochen zuvor befunden hatte, doch diesmal stürmten keine siebenhundert Mann mit aufgepflanzten Bajonetten durch den Fluss, um die Situation zu retten, diesmal kam keine Unterstützung durch die Potomac-Army. Die einhundertsieben Soldaten blieben, wo sie waren, und erwiderten den ganzen Tag so gut wie möglich das Feuer. Erst als die Dunkelheit hereinbrach, flohen sie über den Fluss zurück und brachten vier Gefallene und sieben Verwundete mit. Der erste Mann, den sie in das Sanitätszelt brachten, war Lanning Ordway.
Ordways Mannschaftskameraden berichteten, er sei unmittelbar vor Einbruch der Nacht getroffen worden. Er hatte gerade in die Tasche gegriffen, um den harten Zwieback und das Stück gebratenes Schweinefleisch herauszuholen, das er morgens in Papier eingewickelt und eingesteckt hatte, als ihn kurz hintereinander zwei Minie-Geschosse trafen. Eines davon hatte ein Loch in die Bauchdecke gerissen, und eine Schleife gräulicher Eingeweide hing heraus. Rob J. machte sich daran, sie hineinzudrücken, um die Wunde wieder schließen zu können, doch dann sah er, dass Ordway nicht mehr zu retten war. Der zweite Einschuss lag etwas höher und hatte zweifellos große Zerstörung angerichtet. Rob J. wusste, wenn er den Bauch öffnete, würde er in der Bauchhöhle eine Blutansammlung vorfinden. Ordways Gesicht war weiß wie Milch.
»Möchten Sie irgend etwas, Lanny?« fragte er sanft. Ordways Lippen bewegten sich. Sein Blick verfing sich in dem Robs, und die Gelassenheit, die aus ihm sprach und die Rob J. schon früher bei Sterbenden gesehen hatte, zeigte, dass der Sergeant Bescheid wusste. »Wasser.«
Das war das Schlimmste, was man einem Mann mit einem Bauchschuss geben konnte, doch Rob J. wusste, es spielte keine Rolle mehr. Er nahm zwei Morphiumtabletten aus seinem mee-shome und gab sie Ordway mit einem großen Glas Wasser. Der hatte sie kaum geschluckt, als er sich auch schon rötlich erbrach. »Soll ich einen Priester holen lassen?« fragte Rob J., während er ihm den Mund abwischte. Ordway antwortete nicht, er sah ihn nur an. »Vielleicht wollen Sie mir erzählen, was damals mit Makwa-ikwa in meinem Wald genau passiert ist?
Oder etwas anderes? Irgend etwas?«
»Gehen Sie... Hölle«, brachte der Todgeweihte mühsam hervor. Rob J. glaubte nicht, dass er je zur Hölle gehen würde. Er glaubte auch nicht, dass Ordway oder sonst jemand zur Hölle gehen würde, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Diskussion. »Ich dachte, es würde Ihnen vielleicht helfen, jetzt darüber zu sprechen. Falls Sie sich etwas von der Seele reden wollen.« Ordway schloss die Augen, und Rob J. erkannte, dass es keinen Sinn hatte, noch weiter in ihn zu dringen.
Es war stets schrecklich für ihn, jemanden an den Tod zu verlieren, aber es war besonders schrecklich für ihn, diesen Mann zu verlieren, der zwar bereit gewesen war, ihn umzubringen, in dessen Kopf aber das Wissen um etwas eingeschlossen war, das er all die Jahre hatte erfahren wollen, und wenn dieser Verstand erlosch, dann war dieses Wissen auf immer verloren.
Und außerdem fühlte er sich trotz allem von diesem komplizierten jungen Mann irgendwie angesprochen. Wie hätte Ordway sich entwickelt, wenn er ohne Behinderung geboren worden wäre, eine Schulbildung genossen, Fürsorge anstatt Hunger erfahren und einen Vater gehabt hätte, der kein Trunkenbold war?
Rob J. war sich der Müßigkeit solcher Überlegungen durchaus bewusst, und als sein Blick zu der reglosen Gestalt zurückkehrte, sah er, dass Ordway sich allen Spekulationen entzogen hatte. Er hielt die Äthermaske, während Gardner Coppersmith geschickt ein Minie-Geschoss aus der linken Hinterbacke eines Jungen entfernte, und kehrte dann zu Ordway zurück, band ihm das Kinn hoch und beschwerte seine Lider mit Münzen. Dann legten sie ihn neben die vier anderen Toten, die die B-Kompanie zurückgebracht hatte, auf den Boden.
Der Kreis schließt sich
Am 12. Februar 1864 schrieb Rob J. in sein Tagebuch:
Zwei Flüsse meiner Heimat, der große Mississippi und der bescheidene Rock River, haben mein Leben mitgeprägt, und jetzt habe ich in Virginia mit zwei ebenso ungleichen Flüssen intensive Bekanntschaft machen müssen, da ich an den Ufern des Rappahannock und des Rapidan Zeuge ständigen Mordens wurde. Die Potomac-Army und die Northern-Virginia-Army hetzten vom späten Winter bis zum Frühling Infanterie und Kavallerie gegeneinander über den Rapidan. So selbstverständlich, wie ich in früheren Zeiten den Rock River überquerte, um einen kranken Nachbarn zu besuchen oder einem Kind ans Licht der Welt zu helfen, begleite ich jetzt die Truppen an allen möglichen Stellen über den Rapidan: entweder auf dem Rücken von Pretty Boy oder zu Fuß durch eine seichte Furt oder mit dem Boot oder einem Floß über tiefes Wasser. In diesem Winter gab es keine Schlacht, in der Tausende umkamen, aber ich habe festgestellt, dass ich einen einzelnen Toten als viel tragischer empfinde als ein ganzes Schlachtfeld voller Leichen. Ich habe gelernt, nicht auf die Gesunden und die Gefallenen zu achten, sondern mich auf die Verwundeten zu konzentrieren und junge verdammte Narren zu bergen - meist unter Beschuss junger verdammter Narren aus den Reihen des Feindes...