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»Es geht um meine Tochter!« rief der Mann schon von weitem. »Ich glaube, sie hat sich das Genick gebrochen.«

Shaman schwang sich in den Sattel. Der Ritt zu den Swansons dauerte etwa zehn Minuten. Nach der kurzen Beschreibung fürchtete er sich vor dem, was ihn erwarten würde, doch dann stellte sich heraus, dass das Mädchen lebte, auch wenn es schlimme Schmerzen hatte. Selma Swanson war ein Blondschopf von noch nicht drei Jahren. Sie fuhr mit Vorliebe auf dem Jauchefass mit. An diesem Morgen hatte das Gespann des Fuhrwerks einen großen Habicht aufgescheucht, der auf dem Feld saß und eine Maus vertilgte. Als er plötzlich aufflog, scheuten die Pferde, worauf Selma das Gleichgewicht verlor und vom Kutschbock stürzte. Ihr Vater, der Mühe hatte, die Pferde wieder unter Kontrolle zu bringen, sah, dass seine Tochter im Fallen gegen das Jauchefass schlug. »Für mich sah es aus, als hätte sie sich das Genick gebrochen«, sagte er.

Das kleine Mädchen presste seinen linken Arm mit der rechten Hand an die Brust. Ihre linke Schulter war vorgeschoben. »Nein«, sagte Shaman, nachdem er sie untersucht hatte. »Es ist das Schlüsselbein.«

»Gebrochen?« fragte die Mutter.

»Nun, vielleicht ein wenig angeknackst. Machen Sie sich keine Sorgen! Es wäre ernster, wenn das Ihnen oder Ihrem Mann passiert wäre. Aber in diesem Alter biegen sich die Knochen noch wie grüne Zweige und heilen ganz schnell.«

Das Schlüsselbein war nicht weit von der Stelle entfernt verletzt, wo es mit dem Schulterblatt und dem Brustbein zusammentraf. Mit Tüchern, die Mrs. Swanson brachte, machte er eine Schlinge für Selmas linken Arm und band diesen mit einem weiteren Tuch am Körper fest, um das Schlüsselbein ruhigzustellen. Während er den dampfenden Kaffee austrank, den Mrs. Swanson ihm aus einer auf dem Ofen stehenden Kanne eingegossen hatte, wurde das Kind schon ruhiger. Er war in der Nähe einiger Leute, die er an diesem Tag aufsuchen wollte, und fand es unsinnig, den ganzen Weg nach Hause zu machen und später wieder loszureiten. Also fing er gleich damit an, seine Hausbesuche zu machen.

Die Frau eines neuen Siedlers servierte ihm zu Mittag Fleischpastete. Als er auf die Schaffarm zurückkam, war es bereits später Nachmittag. Im Vorbeireiten sah er, dass sich auf dem Feld, auf dem er an diesem Morgen zu arbeiten angefangen hatte, eine Reihe grüner Heckenschösslinge bis weit in die Prärie hinaus erstreckte.

Das Geheimnis des Vaters

»Gott behüte!« flüsterte Lillian.

Keiner der Geigers habe Anzeichen von Typhus, sagte sie. Shaman fiel auf, wie abgearbeitet sie aussah: Die Führung der Farm, der Haushalt und die Belange der Familie lagen seit dem Weggang ihres Mannes allein auf ihren Schultern. Während die Medikamentenherstellung brachlag, führte sie, so gut es ging, Jasons pharmazeutischen Handel fort, indem sie für Tobias Barr und Julius Barton Arzneimittel besorgte.

»Früher bekam Jay viel von der Firma seiner Eltern in Charleston geliefert, aber jetzt ist South Carolina durch den Krieg natürlich von uns abgeschnitten«, klagte sie Shaman, während sie ihm Tee eingoss. »Hast du in letzter Zeit etwas von Jason gehört?«

»In letzter Zeit nicht.«

Es schien ihr unangenehm zu sein, nach Jason gefragt zu werden. Er konnte verstehen, dass sie nicht viel über ihren Mann sprechen wellte, um nicht versehentlich etwas auszuplaudern, das ihm schaden oder die Familie gefährden könnte. Es war problematisch für eine Frau, in einem Unionsstaat zu leben, während ihr Mann in Virginia für die Konföderierten kämpfte.

Bedeutend wohler war ihr, als sie über Shamans medizinische Laufbahn sprachen. Sie kannte seine Erfolge im Krankenhaus und die Versprechen, die ihm dort gemacht worden waren. Offenbar hatte Sarah sie an den Neuigkeiten teilhaben lassen, die er ihr schrieb. »Cincinnati ist eine so weltoffene Stadt«, sagte Lillian. »Es wird wunderbar für dich sein, dich dort niederzulassen, an der medizinischen Fakultät zu lehren und dir eine elegante Praxis einzurichten. Jay und ich sind sehr, sehr stolz auf dich.« Sie schnitt, ohne zu bröseln, Teekuchen in dünne Scheiben und achtete darauf, dass sein Teller nicht leer wurde. »Weißt du schon, wann du zurückgehen wirst?«

»Noch nicht.«

»Shaman.« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf seine. »Du bist zurückgekommen, als dein Vater starb, und du hast dich gut um alles gekümmert. Aber jetzt musst du anfangen, an dich selbst zu denken. Weißt du, was dein Vater von dir erwarten würde?«

»Weißt du es?«

»Er würde wollen, dass du nach Cincinnati zurückkehrst und deine Laufbahn verfolgst. Du musst so bald wie möglich wieder dorthin!«

Er wusste, dass sie recht hatte. Wenn er gehen wollte, dann sollte er es bald tun. Jeden Tag wurde er zu neuen Familien gerufen, da die Menschen jetzt wieder einen Arzt hatten, an den sie sich wenden konnten. Jedesmal wenn er einen Patienten behandelte, war es, als werde er durch einen weiteren feinen Faden gefesselt. Natürlich konnte man solche Fäden zerreißen. Wenn er fortginge, könnte Dr. Barr alle Patienten übernehmen, die noch eine Behandlung brauchten. Doch verstärkte jeder Faden sein Gefühl, dass es Dinge gab, die er nicht unerledigt lassen wollte.

Sein Vater hatte ein Adressenverzeichnis geführt, und das ging Shaman sorgfältig durch. Er gab Wendell Holmes in Bosten schriftlich Nachricht vom Tod seines Vaters und seinem Onkel in Schottland, den er nie kennengelernt hatte und der sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen brauchte, dass sein älterer Bruder nach Hause kommen und sein Land beanspruchen könnte.

Jede freie Minute verbrachte Shaman damit, in den Tagebüchern Rob J.s zu lesen, gefangengenommen von jenen Zügen seines Vaters, die aufregend und unbekannt waren. Rob J. hatte voller Besorgnis und Zärtlichkeit über die Taubheit seines Sohnes geschrieben, und Shaman spürte beim Lesen die Wärme seiner Liebe. Die kummervolle Beschreibung von Makwa-ikwas Tod und dem späteren Tod von Der singend einhergeht und Monds ließ in Shaman verschüttete Gefühle neu erwachen. Er las immer wieder den Bericht seines Vaters über Makwa-ikwas Autopsie, weil er nichts übersehen wollte, und er versuchte dann festzustellen, ob seinem Vater bei der Untersuchung etwas entgangen sein könnte und ob er selbst etwas anders gemacht hätte, wenn er die Leiche seziert hätte.

In dem Band, der das Jahr 1853 umfasste, las er Verblüffendes. In der Schreibtischschublade seines Vaters fand er den Schlüssel zu dem verschlossenen Schuppen hinter der Scheune, und er ging hin, öffnete das große Schloss und trat ein. Hundertemal war er schon hier gewesen. Auf Wandregalen standen Medikamente, Flaschen mit Toniken, Tinkturen, und von den Balken hingen Bündel getrockneter Kräuter herab: Makwa-ikwas Nachlass. Da stand der alte Holzofen, nicht weit entfernt von dem hölzernen Seziertisch, wo er seinem Vater so viele Male assistiert hatte. Nierenschalen und Eimer hingen an der Wand. An einem Nagel, der in einen Pfosten eingeschlagen war, entdeckte er den alten, braunen Pullover seines Vaters.

Der Schuppen war jahrelang nicht saubergemacht worden. Alles war voller Spinnweben, doch Shaman ließ sich nicht stören. Er suchte die Stelle an der Nordwand, die er für die richtige hielt, und zog an dem Brett. Es rührte sich nicht. In der Scheune gab es eine Brechstange, aber es war unnötig, sie zu holen, denn als er an dem nächsten Brett zog, ließ es sich ganz leicht wegnehmen. Ebenso die angrenzenden. Es war, als blickte man in den Eingang zu einer Höhle. Das einzige Tageslicht im Schuppen kam durch ein kleines, verstaubtes Fenster.

Shaman öffnete die Schuppentür so weit wie möglich, doch es half nicht viel, und so nahm er die Laterne herunter, die noch ein wenig Öl enthielt, und zündete sie an. Gleich darauf erhellte flackernder Lichtschein die Nische.

Shaman kroch hinein. Sein Vater hatte sie sauber hinterlassen. Sie enthielt noch immer eine Schüssel, eine Tasse und eine alte, ordentlich zusammengefaltete Decke, die Shaman noch aus seiner Kindheit kannte Der Raum war klein, und Shaman hatte die Körpergröße seines Vaters. Bestimmt waren einige der entflohenen Sklaven auch große Menschen gewesen.