Manchmal, wenn Rob J. aus einem solchen Traum aufwachte, lag er in seinem schmalen Bett unter den Dachsparren und tastete sich ab, zitternd vor Erleichterung, dass er noch am Leben war. Dann starrte er in die Dunkelheit und fragte sich, wie viele Menschen wohl nicht mehr unter den Lebenden waren, weil er dieses Pamphlet geschrieben hatte. Wie viele Schicksale hatten sich geändert, wie viele Leben waren ausgelöscht worden, weil er so viele Menschen mit seiner Überzeugung beeinflusst hatte. Die landläufige Moral besagte, Überzeugungen seien es wert, dass für sie gekämpft oder gestorben werde. Wenn man aber alles gründlich überlegte, war dann nicht das Leben der einzige kostbare Besitz, den ein menschliches Wesen hatte? Und war er als Arzt denn nicht verpflichtet, vor allen Dingen das Leben zu schützen und zu erhalten? Er schwor sich und Äskulap, dem Vater der Heilkunst, nie mehr wegen eines unterschiedlichen Glaubens den Tod eines Menschen zu verursachen, ja nie mehr aus Zorn einen Menschen auch nur zu schlagen, und wohl zum tausendstenmal fragte er sich, wie schwer es diesem Bruce Irgendwer gefallen sein musste, diese fünfzehn Pfund zu verdienen.
Die Farbe des Gemäldes
»Es ist nicht Ihr Geld, das Sie ausgeben!« sagte Mr. Wilson eines Morgens verdrossen, als er Rob J. seinen Stapel Patientenscheine gab. »Es ist das Geld, das angesehene Bürger der Dispensary gespendet haben. Und kein Arzt, der für uns arbeitet, darf dieses Geld nach eigenem Gutdünken verschwenden.«
»Ich habe Ihr Geld nicht verschwendet. Ich habe nie Patienten behandelt oder ihnen etwas verschrieben, die nicht wirklich krank waren und unsere Hilfe dringend nötig hatten. Ihr System ist nicht gut. Manchmal zwingt es mich dazu, jemanden mit einer Zerrung zu behandeln, während andere wegen mangelnder Fürsorge sterben.«
»Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Sir.« Mr. Wilsons Blick und seine Stimme waren ruhig, aber seine Hand mit den Scheinen zitterte. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie in Zukunft Ihre Besuche auf die Namen auf den Scheinen, die Sie jeden Morgen von mir erhalten, beschränken müssen.«
Rob J. hätte Mr. Wilson zu gerne gesagt, was er zur Kenntnis nehme und was Mr. Wilson mit seinen Patientenscheinen tun könne. Aber angesichts der Komplikationen in seinem Leben wagte er es nicht. So zwang er sich dazu, nur zu nicken und sich abzuwenden. Mit den Scheinen in der Tasche machte er sich auf in den Distrikt.
An diesem Abend änderte sich alles. Margaret kam in seine Kammer und setzte sich auf die Bettkante, ihr Stammplatz für Neuigkeiten. »Ich blute.«
Er zwang sich, zuerst nur als Arzt zu denken. »Eine Hämorrhagie? Verlierst du große Mengen Blut?«
Sie schüttelte den Kopf. »Zuerst war es ein bisschen mehr als sonst. Dann wie bei meiner normalen Blutung.
Und jetzt ist es fast schon vorüber.«
»Wann hat es angefangen?«
»Vor vier Tagen.«
»Vor vier Tagen?« Warum hatte sie vier Tage gewartet, bis sie es ihm sagte? Sie sah ihn nicht an. Sie saß stocksteif da, als würde sie sich gegen seine Wut wappnen, und ihm wurde klar, dass sie die vier Tage lang mit sich selbst gekämpft hatte. »Wolltest es mir wohl überhaupt nicht sagen, mh?«
Sie antwortete nicht, doch er verstand. Obwohl er in ihren Augen ziemlich eigenartig war, ein ständig händewaschender Protestant, hatte sie in ihm doch eine Chance gesehen, dem Gefängnis ihrer Armut zu entkommen. Nachdem er selbst dieses Gefängnis aus der Nähe gesehen hatte, kam es ihm fast wie ein Wunder vor, dass sie sich überhaupt zu dem Geständnis durchgerungen hatte, und wurde nicht zornig, weil sie es hinausgezögert hatte, sondern empfand Bewunderung und überwältigende Dankbarkeit. Er ging zu ihr, zog sie hoch und küsste ihre geröteten Augen. Dann legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich und strich ihr über den Kopf, als tröste er ein verängstigtes Kind.
Am folgenden Morgen ging er wie benommen durch die Straßen, seine Knie zitterten vor Erleichterung. Männer und Frauen lächelten, wenn er sie grüßte. Es war eine neue Welt mit einer helleren Sonne und einer milderen Luft zum Atmen.
Seine Patienten behandelte er mit der üblichen Aufmerksamkeit, aber zwischendurch rasten die Gedanken in seinem Kopf. Schließlich setzte er sich auf eine Holztreppe an der Broad Street und dachte über die Vergangenheit, die Gegenwart und seine Zukunft nach. Zum zweitenmal war er einem schlimmen Schicksal entronnen. Er empfand dies als eine Warnung, dass er mit seinem Leben achtsamer und respektvoller umgehen müsse.
Rob J. betrachtete sein Leben als ein großes, im Entstehen begriffenes Gemälde. Was immer auch passieren mochte, das fertige Bild würde bestimmt von der Medizin handeln, aber er spürte, wenn er in Boston blieb, würden Grautöne in diesem Gemälde vorherrschen. Amelia Holmes konnte für ihn eine »brillante Partie«, wie sie es nannte, arrangieren, aber nachdem er einer lieblosen Ehe in Armut entronnen war, hatte er keine Lust, auf eine lieblose Ehe in Reichtum zuzusteuern oder sich auf dem Heiratsmarkt der Bostoner Gesellschaft feilbieten zu lassen, als Arztfleisch sozusagen, das Pfund zu soundso viel.
Er wollte das Gemälde seines Lebens mit den kräftigsten Farben malen, die er finden konnte.
An diesem Nachmittag ging er nach der Arbeit ins Athenaeum, um noch einmal die Bücher zu lesen, die ihn so gefesselt hatten. Doch lange bevor er damit fertig war, wusste er, wohin er gehen und was er tun wollte.
Als Rob dann abends in seinem Bett lag, kam das vertraute leise Signal an seiner Tür. Er starrte bewegungslos in die Dunkelheit. Noch einmal hörte er das Kratzen und schließlich ein drittesmal. Aus verschiedenen Gründen wäre er gern zur Tür gegangen, um sie zu öffnen. Aber er blieb wie erstarrt liegen und durchlitt einen Augenblick des Schreckens, der so schlimm war wie jede Sekunde seiner Alpträume, und nach einer Weile ging Margaret Holland weg.
Er brauchte über einen Monat, um seine Vorbereitungen zu treffen und den Dienst bei der Dispensary zu quittieren. Anstelle einer Abschiedsfeier sezierte er zusammen mit Holmes und Harry Loomis an einem schneidend kalten Dezemberabend die Leiche einer Negersklavin namens Della. Die Frau hatte ihr Leben lang schwer gearbeitet, und ihr Körper war erstaunlich muskulös. Harry hatte echtes Interesse an der Anatomie und Geschick für das Sezieren bewiesen und sollte Rob J.s Stelle als Assistent an der Medical School einnehmen.
Holmes gab, während sie schnitten, seine Erklärungen ab und wies sie darauf hin, dass das fransige Ende des Eileiters aussehe wie »der Saum des Schals einer armen Frau«. Jedes Organ und jeder Muskel erinnerten einen der drei an eine Geschichte, ein Gedicht, ein anatomisches
Wortspiel oder eine Zote. Es war eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit, die sie mit höchster Akribie durchführten, doch sie brüllten dabei vor Lachen und Ausgelassenheit. Danach gingen sie in die Essex Tavern und tranken bis zur Sperrstunde Glühwein. Rob J. versprach Holmes und Harry, sich bei ihnen zu melden, sobald er sein endgültiges Ziel erreicht habe, und sich, wenn nötig, mit Problemen an sie zu wenden. Sie trennten sich so kameradschaftlich, dass Rob J. seine Entscheidung beinahe bedauerte.
Am nächsten Morgen ging er in die Washington Street, kaufte geröstete Maronen und brachte sie, eingewickelt in eine Seite der »Boston Transcript«, in das Haus an der Spring Lane. Er schlich sich in Margaret Hollands Zimmer und legte die Tüte unter ihr Kopfkissen. Kurz nach Mittag bestieg er einen Eisenbahnwaggon, den gleich darauf eine Dampflokomotive aus dem Bahnhof zog. Der Schaffner, der seine Fahrkarte kontrollierte, musterte sein Gepäck misstrauisch, denn Rob J. hatte sich geweigert, seine Gambe und seinen Lederkoffer im Gepäckwagen abzugeben. Neben seinen medizinischen Instrumenten und seinen Kleidern enthielt der Koffer Old Horny und ein halbes Dutzend Kernseifenriegel, wie Holmes sie benutzte. Obwohl er kaum Geld besaß, verließ er Boston viel reicher, als er es betreten hatte. Es waren noch vier Tage bis Weihnachten. Der Zug eilte an Häusern vorbei, deren Türen mit Girlanden geschmückt waren und durch deren Fenster man flüchtige Blicke auf Christbäume erhaschen konnte. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Trotz leichten Schneetreibens erreichten sie in weniger als drei Stunden Worcester, den Endbahnhof der Boston Railroad. Die Fahrgäste mussten in einen Zug der Western Railroad umsteigen, und dort saß Rob J. neben einem stattlichen Mann, der ihm sofort seinen Flachmann anbot. »Nein danke, sehr freundlich«, sagte Rob J., ließ sich aber auf eine Unterhaltung mit dem Mann ein, um die Ablehnung nicht zu barsch wirken zu lassen. Der Mann war Vertreter für Nägeclass="underline" Hakennägel und solche mit Senk- und Stauchköpfen, Krampen, Stifte aus gehärtetem Stahl oder aus Draht, in den unterschiedlichsten Größen von der feinsten Stahlnadel bis zum riesigen Bootsnagel. Er zeigte Rob J. seine Muster, und der genoss diesen Zeitvertreib.