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Er blies die Laterne aus, und Dunkelheit umfing ihn. Er stellte sich vor, dass der Eingang verschlossen war und die Welt draußen ein blutrünstiger Hund, der ihn jagte. Er hatte also die Wahl, ein Arbeitstier zu sein oder ein gejagtes Tier.

Als er nach einer Weile wieder hinauskroch, nahm er den Pullover vom Nagel und zog ihn an, obwohl es warm war. Das Kleidungsstück hatte noch den Geruch seines Vaters an sich.

All die Zeit, dachte er, all die Jahre, während der er und Alex in dem Haus gelebt, gestritten und krakeelt hatten und in ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen aufgegangen waren, hatte sein Vater dieses Geheimnis mit sich herumgetragen, und er war ganz allein mit ihm fertig geworden. Shaman hatte plötzlich den übermächtig starken Wunsch, mit Rob J. zu sprechen, seine Erlebnisse zu teilen, ihm Fragen zu stellen und ihm seine Liebe und Bewunderung zu zeigen. In seinem Zimmer im Krankenhaus hatte er geweint, als er die telegraphische Nachricht vom Tod des Vaters erhielt. Doch auf der Bahnfahrt war er teilnahmslos, während und nach den Beerdigung dann seiner Mutter zuliebe beherrscht gewesen. Jetzt lehnte er sich an die Holzwand neben der Nische und glitt an den Brettern hinunter, bis er wie ein Kind auf dem Erdboden saß. Und wie ein verlassenes Kind überließ er sich der gramvollen Gewissheit, dass die Stille, die ihn umgab, in Zukunft noch einsamer sein würde als früher.

Unverhofftes Wiedersehen

Sie hatten Glück: Es gab keinen weiteren Typhus-Fall in Holden’s Crossing. Zwei Wochen waren vergangen, doch es hatten sich keine roten Flecken auf Tilda Snows Körper gezeigt. Ihr Fieber war schnell gesunken, ohne Durchfall oder auch nur die Andeutung einer Blutung, und als Shaman eines Tages erneut zur Snow-Farm kam, fütterte sie schon wieder Schweine. »Es war eine schlimme Grippe«, sagte er zu ihrem Mann. »Aber sie hat sie überwunden.« Wenn Snow ihn jetzt hätte bezahlen wollen, wäre er nicht abgeneigt gewesen, doch der Farmer gab ihm statt des Geldes zwei Gänse, die er eigens für Shaman geschlachtet, gerupft und ausgenommen hatte.

»Ich habe einen alten Leistenbruch, der mir Ärger macht«, sagte Snow.

»Ich möchte aber nichts dran machen lassen, bis ich das erste Heu eingefahren habe.«

»Und wann wird das sein? In sechs Wochen?«

»So ungefähr.«

»Kommen Sie dann in meine Sprechstunde!«

»Was - sind Sie denn dann noch da?«

»Ja«, antwortete Shaman lächelnd. Er fragte sich verdutzt, wann er den Entschluss gefasst hatte, für immer zu bleiben. Und als er in sich hineinhorchte, erkannte er, dass ihn die Entscheidung weder mit Unruhe noch mit Zweifeln erfüllte, und da begriff er, dass sie die einzig richtige war.

Er gab die beiden Gänse seiner Mutter und schlug vor, Lillian Geiger und ihre Söhne zum Essen einzuladen.

Aber Sarah meinte, es sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür und sie finde es besser, die Vögel allein zu essen.

Nur sie beide und die zwei Farmarbeiter.

An diesem Abend schrieb Shaman Briefe an Barnett McGowan und Lester Berwyn, in denen er seine Dankbarkeit für all das ausdrückte, was sie in der Medical School und in der Poliklinik für ihn getan hatten, und er erklärte, dass er seine Stellung im Krankenhaus aufgebe, um die Praxis seines Vaters in Holden’s Crossing weiterzuführen. Außerdem schrieb er an Tobias Barr in Rock Island und bedankte sich dafür, dass dieser immer den Mittwoch für Holden’s Crossing freigehalten hatte. Er teilte ihm mit, dass er von jetzt an ganztägig in Holden’s Crossing praktizieren werde, und bat den Kollegen, seine Aufnahme in die Rock Island County Medical Society zu unterstützen. Als er die Briefe beendet hatte, unterrichtete er seine Mutter von seinem Entschluss. Sie war von seiner Entscheidung sichtlich angetan und erleichtert, dass sie nicht allein bleiben würde. Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich werde es den Frauen von der Kirchengemeinde sagen«, erklärte sie eifrig, und Shaman lächelte: Wenn die es wussten, musste er von sich aus niemanden mehr in Kenntnis setzen.

Sie setzten sich zusammen und machten Pläne. Er wollte die Gepflogenheit seines Vaters übernehmen, morgens Sprechstunde abzuhalten und jeden Nachmittag Hausbesuche zu machen. Und er wollte auch dasselbe Honorar verlangen. Es war nicht übertrieben hoch, hatte ihnen jedoch ein angenehmes Leben ermöglicht. Er hatte auch über die Probleme mit der Farm nachgedacht, und seine Mutter hörte aufmerksam seine Vorschläge an und nickte zustimmend. Am nächsten Morgen suchte er Alden in seiner Hütte auf, trank mit ihm entsetzlichen Kaffee und eröffnete ihm, dass sie beschlossen hätten, den Schafbestand zu reduzieren.

Alden ließ Shaman nicht aus den Augen, während er an seiner kalten Pfeife zog und sie dann wieder entzündete.

»Du bist dir schon im klaren, was du da sagst, oder? Du weißt, dass der Wollpreis hoch bleiben wird, solange der Krieg dauert, und eine kleine Herde auch weniger Gewinn bringt?«

Shaman nickte. »Meine Mutter und ich wissen, dass die einzige andere Möglichkeit darin bestünde, den Betrieb zu vergrößern, was die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte und eine aufwendigere Verwaltung erfordern würde, und das wollen wir beide nicht. Ich bin Arzt und nicht Schafzüchter. Aber wir wollen natürlich nicht, dass die Schafe jemals vom Cole-Land verschwinden. Deshalb bitten wir dich, die Herde durchzusehen und die Tiere, die die beste Wolle bringen, auszusuchen. Die behalten wir dann für die Weiterzucht. Wir werden die Herde jedes Jahr sorgfältig sortieren, um immer bessere Wolle zu bekommen, damit wir auch in Zukunft gute Preise erzielen. Wir behalten nur so viele Schafe, wie du mit Doug Penfield bewältigen kannst.«

Aldens Augen leuchteten. »Nun, das nenne ich mal eine kluge Entscheidung«, sagte er hoch befriedigt und goss Shaman noch einen Becher von seinem scheußlichen Gebräu ein.

Manchmal war es sehr schmerzlich für Shaman, die Aufzeichnungen seines Vaters zu lesen, sich in seine Gefühle und Denkweise hineinzuversetzen. Es gab Zeiten, da legte er den Band, bei dem er gerade war, für eine ganze Woche beiseite, doch er kehrte immer wieder zur Lektüre zurück. Er musste weiterlesen, denn die Tagebücher waren die letzte Verbindung zu seinem Vater. Wenn er sie ausgelesen hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, etwas über Rob J. Cole zu erfahren - nur noch Erinnerungen.

Es war ein verregneter Juni und ein seltsamer Sommer, in dem alles zu früh dran war: die Ernte, das Obst und auch die Waldfrüchte. Feldhasen und Kaninchen vermehrten sich ungeheuer. Die Tiere schienen allgegenwärtig zu sein, kamen bis nah ans Haus und knabberten dort das Gras ab und fraßen den Salat, ja sogar die Blumen in Sarahs Garten. Die Nässe machte die Heuernte schwierig. Das Gras mehrerer gemähter Wiesen verfaulte, weil es nicht trocknen konnte, und lockte Schwärme von Insekten an, die sich auf Shaman stürzten, wenn er zu seinen Hausbesuchen ritt. Dennoch fand er es wunderbar, der Arzt von Holden’s Crossing zu sein. Auch in der Poliklinik von Cincinnati hatte er gern gearbeitet. Wenn er dort Hilfe oder die Bestätigung einer Diagnose brauchte, stand der gesamte Stab zu seiner Verfügung. Hier aber war er völlig auf sich allein gestellt, und er wusste morgens nie, was im Laufe des Tages auf ihn zukommen würde. Das war medizinische Praxis in Reinkultur, und er fand großen Gefallen daran. Tobias Barr schrieb ihm, dass die Medical Society nicht mehr bestehe, weil die meisten Mitglieder im Krieg seien. Er schlug vor, dass Shaman, Julius Barton und er sich einmal im Monat zum Essen und Fachsimpeln treffen sollten, bis die Gesellschaft sich wieder etabliere. Die drei genossen den ersten gemeinsamen Abend sehr und sprachen vor allem über die Masern, die sich in Rock Island ausbreiteten, in Holden’s Crossing jedoch nicht.

Sie waren einer Meinung, dass man den jugendlichen und erwachsenen Patienten einschärfen müsse, die Pusteln nicht aufzukratzen, wie schlimm der Juckreiz auch sein mochte, und dass die Krankheit mit lindernden Salben, fiebersenkenden Getränken und Seidlitz-Puder behandelt werden müsse. Interessiert lauschten die beiden anderen Männer, als Shaman ihnen berichtete, dass in der Poliklinik von Cincinnati auch das Gurgeln mit Alaun angeordnet werde, wenn die Atmungsorgane in Mitleidenschaft gezogen sind. Beim Dessert kam das Gespräch auf die Politik. Dr. Barr, einer der vielen Republikaner, die das Gefühl hatten, Lincoln gehe zu sanft mit dem Süden um, begrüßte die Wade-Davis Reconstruction Bill, die schwere Strafmaßnahmen für den Süden forderte, sobald der Krieg zu Ende sei, und die das Repräsentantenhaus trotz Lincolns Protest ratifiziert hatte. Von Horace Greely ermutigt, hatten sich abtrünnige Republikaner in Cleveland versammelt und waren übereingekommen, ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren: General John Charles Fremont.