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»Halten Sie es für möglich, dass der General Lincoln aus dem Feld schlägt?« fragte Shaman.

Dr. Barr schüttelte traurig den Kopf. »Nicht, wenn dann immer noch Krieg ist. Es gibt keine bessere Voraussetzung für eine Wiederwahl als den Krieg.«

Im Juli hörten die Regenfälle endlich auf, doch die Sonne stand wie eine Kupferscheibe am Himmel, und die Prärie dampfte und wurde dürr und braun. Die Masernepidemie erreichte nun Holden’s Crossing, und Shaman wurde immer öfter nachts aus dem Bett zu einem Patienten geholt, obwohl die Krankheit weniger schlimm wütete als in Rock Island. Seine Mutter erzählte, dass die Masern im Vorjahr in Holden’s Crossing ein halbes Dutzend Todesopfer gefordert hätten, darunter mehrere Kinder. Shaman meinte, dass ein massives Auftreten der Erkrankung vielleicht in den folgenden Jahren eine partielle Immunität hervorrufe. Er trug sich mit dem Gedanken, an Harold Meigs, seinen ehemaligen Lehrer in Cincinnati zu schreiben, um ihn zu fragen, was er von dieser Theorie halte.

An einem windstillen Abend, als die Schwüle sich in einem Gewitter entlud, spürte Shaman die Vibrationen der heftigen Donnerschläge und riss jedesmal im Bett die Augen auf, wenn die Blitze sein Zimmer taghell erleuchteten. Schließlich gewann seine Müdigkeit dennoch die Oberhand, und er schlief ein, und zwar so fest, dass seine Mutter ihn sekundenlang an der Schulter rütteln musste, bis er zu sich kam. Sarah hielt die Lampe vor ihr Gesicht, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Du musst aufstehen.«

»Jemand mit Masern?« fragte er und fuhr in seine Kleider. »Nein. Lionel Geiger ist hier, um dich zu holen.«

Inzwischen war er auch in seine Schuhe geschlüpft und ging hinaus. »Was ist los, Lionel?«

»Der kleine Junge meiner Schwester. Er hat einen Erstickungsanfall. Versucht immer, Luft zu holen, und macht dabei ein unheimliches Geräusch wie eine Pumpe, die kein Wasser ansaugt.«

Es wäre zu zeitraubend gewesen, über den Langen Weg durch den Wald zu gehen, und zu zeitraubend, ein Pferd vor den Wagen zu spannen oder zu satteln. »Ich nehme dein Pferd«, erklärte Shaman Lionel, und schon war er aufgesprungen und galoppierte, die Arzttasche fest an sich gepresst, den Weg hinunter. Nach einer halben Meile die Straße entlang bog er zu den Geigers ab. Lillian Geiger erwartete ihn an der Haustür. »Hier rein!« Rachel.

Sie saß in ihrem alten Zimmer auf dem Bett und hatte ein Kind auf dem Schoß. Der Kleine war blau angelaufen.

Immer wieder versuchte er, Luft zu holen. »Tu etwas! Er wird sterben.«

Wie es aussah, glaubte Shaman, dass der Junge dem Tod tatsächlich sehr nahe war. Er öffnete den Mund des Kindes und schaute hinein. Der Gaumen und der Kehldeckel waren von einer Schleimschicht bedeckt, einer tödlichen Schleimschicht, dick und grau. Shaman riss sie mit Zeige- und Mittelfinger weg. Sofort holte der Junge tief und zittrig Luft.

Seine Mutter drückte ihn weinend an sich. »O Gott, Joshua! Geht es dir besser?« Sie hatte schon geschlafen und roch deshalb aus dem Mund, und ihre Haare waren zerzaust. Doch es war wirklich Rachel! Unglaublich. Eine ältere, fraulichere Rachel, die nur Augen für ihr Kind hatte.

Der Kleine sah schon bedeutend besser aus. Die ungesunde Blautönung wich der normalen Hautfärbung, als der Sauerstoff durch seine Lunge strömte. Shaman legte die Hand auf die Brust des Jungen, um die Stärke des Herzschlages zu fühlen, prüfte dann den Puls und umschloss für einen Moment die kleinen Hände mit seinen großen. Der Junge fing an zu husten.

Lillian kam ins Zimmer, und Shaman wandte sich an sie. »Wie hört sich der Husten an?«

»Hohl. Wie ein... ein Bellen.«

»Und hört man auch ein Pfeifen?«

»Ja, am Ende von jedem Huster.«

Shaman nickte. »Er hat einen erkältungsbedingten Krupp. Ihr müsst Wasser kochen und ihn den Rest der Nacht immer wieder heiß baden, damit sich die Atmungsmuskulatur in der Brust wieder entspannt. Und er muss inhalieren.« Er nahm eines von Makwa-ikwas Heilmitteln aus der Arzttasche, eine Teemischung aus schwarzer Schlangenwurzel und Ringelblumen. »Brüht das auf, süßt es, und lasst ihn den Tee so heiß wie möglich trinken.

Das hält seinen Hals offen und lindert den Husten.«

»Danke, Shaman!« Lillian drückte ihm die Hand. Rachel schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ihre blutunterlaufenen Augen blickten irre, das Kleid war mit dem Auswurf des Jungen beschmiert.

Als er das Haus verließ, kamen seine Mutter und Lionel den Langen Weg herunter. Lionel trug eine Laterne, die Schwärme von Insekten angezogen hatte. Lionels Lippen bewegten sich, und Shaman konnte erraten, was er fragte.

»Ich glaube, es geht ihm bald wieder gut«, sagte er. »Mach die Laterne aus, und achte darauf, dass du keine Mücke und keinen Nachtfalter mit ins Haus bringst!«

Dann ging er auf dem Langen Weg nach Hause, eine Strecke, die er schon so oft gegangen war, dass er sich auch im Dunkeln zurechtfand.

Ab und zu leuchteten die letzten Blitze des Unwetters auf und tauchten den schwarzen Wald zu beiden Seiten des Pfades in gleißendes Licht.

Wieder in seinem Zimmer, zog er sich aus wie ein Schlafwandler. Doch als er in seinem Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Halb betäubt und verwirrt ließ er den Blick über die von vereinzelten Blitzen erhellte Decke und die Wände wandern, doch wohin er auch schaute, er sah immer wieder dasselbe Gesicht.

Ein offenes Gespräch

Als er am nächsten Morgen zum Anwesen der Geigers kam, öffnete ihm Rachel in einem neu aussehenden blauen Hauskleid. Ihr Haar war ordentlich frisiert. Er roch ihren leicht würzigen Duft, als sie seine Hände nahm.

»Hallo, Rachel!«

»Ich danke dir, Shaman!«

Ihre Augen waren wieder leuchtend und tief, aber er bemerkte noch Reste von Erschöpfung in ihnen. »Wie geht es meinem Patienten?«

»Besser, wie es scheint. Der Husten ist nicht mehr so beängstigend.«

Sie führte ihn die Treppe hinauf. Lillian saß mit einigen Bogen braunen Papiers und einem Bleistift am Bett ihres Enkels, um ihn mit Strichmännchen und Geschichten zu unterhalten. Der Kleine, den Shaman in der letzten Nacht nur als schwerkranke Kreatur gesehen hatte, präsentierte sich ihm heute als ein dunkeläugiger Junge mit braunem Haar und Sommersprossen, die auf dem blassen Gesichtchen ganz dunkel wirkten. Er musste an die zwei Jahre alt sein. Am Fuß des Bettes saß ein Mädchen, das einige Jahre älter, aber ihrem Bruder sehr ähnlich war.

»Das sind meine Kinder«, sagte Rachel. »Joshua und Hattie Regensberg. Und dies ist Dr. Cole.«

»Guten Tag«, sagte Shaman.

»Tag.« Der Junge beäugte ihn misstrauisch.

»Guten Tag«, begrüßte Hattie ihn artig. »Mama sagt, Sie können uns nicht hören, und wir müssen Sie ansehen, wenn wir reden, und deutlich sprechen.«

»Ja, das stimmt.«

»Warum hören Sie uns nicht?«

»Ich bin taub, weil ich als kleiner Junge einmal sehr krank war«, antwortete Shaman leichthin.

»Wird Joshua auch taub?«