Выбрать главу

»Doch. Aber ich tue es nur selten«, erwiderte Shaman geistesabwesend. Er hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, und musterte mit Hilfe seines Opernglases die Zuschauer auf den Balkonen, zuerst auf der linken Seite und dann auf der rechten. Auf dem zweiten Rang rechts entdeckte er Lillian und Rachel. Lillian trug ein braunes Leinenkleid mit großen, glockenförmigen Ärmeln aus Spitze, Rachel saß direkt unter einer Lampe, weshalb sie immer wieder Insekten verscheuchen musste, die das Licht anzog. Doch das erlaubte ihm, sie genauer anzusehen. Ihr Haar war sorgfältig zu einem schimmernden Knoten zusammengefasst, und sie trug ein schwarzes Kleid, das aussah, als sei es aus Seide. Er fragte sich, wie lange sie wohl noch Trauer tragen werde.

Das Kleid war kragenlos und hatte kurze Puffärmel. Er betrachtete ihre runden Arme und fülligen Brüste, doch immer wieder kehrte sein Blick zu ihrem Gesicht zurück. Während er sie noch anschaute, wandte sie sich von ihrer Mutter ab und sah zu ihm herunter. Einige Sekunden beobachtete sie ihn dabei, wie er sie musterte, dann löschten die Platzanweiser die Lampen. Der dritte Akt kam ihm endlos lang vor. Gerade als Romeo zu Mercutio sagte: »Sei guten Muts, Freund! Die Wunde kann nicht beträchtlich sein«, merkte er, dass Evelyn Flagg versuchte, ihm etwas zu sagen. Er spürte ihren leichten, warmen Atem an seinem Ohr, während Mercutio antwortete: »Nein, nicht so tief wie ein Brunnen noch so weit wie eine Kirchentüre; aber es reicht eben hin.« Er ließ sein Theaterglas sinken und wandte sich dem Mädchen zu, das neben ihm im Dunkeln saß. Warum waren kleine Kinder wie Joshua und Hattie Reeensberg fähig, sich zu merken, dass er von den Lippen ablesen musste, und diese junge Frau nicht?

»Ich kann Sie nicht hören!« Er war nicht gewohnt zu flüstern. Zweifellos hatte er zu laut gesprochen, denn der Mann, der direkt vor ihm saß, drehte sich um und schaute ihn empört an.

»Es tut mir leid«, flüsterte Shaman. Er hoffte, dass er diesmal tatsächlich geflüstert hatte, und hob das Glas wieder an die Augen, ohne weiter auf seine Nachbarin zu achten.

Angeln

Shaman wollte herausfinden, was Männer wie seinen Vater und George Cliburn dazu befähigte, jegliche Gewalt abzulehnen und dementsprechend zu handeln, während andere das nicht konnten. Nur wenige Tage nach dem Theaterbesuch ritt er wieder nach Rock Island - diesmal, um mit Cliburn über Gewaltlosigkeit zu sprechen. Er konnte die Enthüllungen aus dem Tagebuch kaum glauben, dass Cliburn der kaltblütige und mutige Mann war, der entlaufene Sklaven zu seinem Vater gebracht und später wieder abgeholt hatte, um sie zu ihrem nächsten Versteck zu schaffen. Der dicke, allmählich kahl werdende Futtermittelhändler sah nicht im entferntesten aus wie ein Held und schien auch kaum der Mensch zu sein, der für ein Prinzip alles riskiert. Shaman war voller Bewunderung für den harten, geheimen Kämpfer, der in Cliburns behäbigem Körper wohnte.

Als er ihm seine Bitte im Geschäft vortrug, nickte Cliburn. »Ja, natürlich können Sie mir Fragen über Gewaltlosigkeit stellen, und wir werden uns unterhalten, aber ich fände es gut, wenn Sie sich zunächst mit dem Thema vertraut machen und einige Bücher darüber lesen«, meinte er und sagte seinem Angestellten, dass er bald zurück sei. Shaman ritt hinter ihm her zu seinem Haus, und kurz darauf hatte Cliburn aus seiner Bibliothek einige Werke ausgewählt. »Vielleicht möchten Sie einmal zu einem Treffen der >Freunde< mitkommen?«

Shaman bezweifelte das zwar, dankte Cliburn jedoch für die Einladung und ritt mit den Büchern heim. Sie erwiesen sich als Enttäuschung, da sie hauptsächlich vom Quäkertum handelten. Die Society of Friends war im siebzehnten Jahrhundert in England gegründet worden - von einem Mann namens George Fox, der daran glaubte, dass Gottes Inneres Licht in den Herzen aller Menschen wohne. Cliburns Bücher zufolge unterstützten die Quäker einander in ihrer einfachen Lebensweise in Liebe und Freundschaft. Sie hielten nichts von Dekreten und Dogmen, betrachteten das ganze Leben als ein Sakrament und kannten keine spezielle Liturgie. Sie hatten keine Geistlichen, sondern vertraten die Ansicht, dass Laien fähig seien, den Heiligen Geist zu empfangen, und die Basis ihrer Glaubenslehre bestand darin, dass sie den Krieg ablehnten und sich für den Frieden einsetzten.

Die »Freunde« wurden in England verfolgt, und ihr Name war ursprünglich eine Beleidigung: Als Fox vor den Richter gezerrt wurde, riet er diesem, »vor dem Wort Gottes zu erzittern«, woraufhin der Richter ihn einen quaker schimpfte, einen Zitterer. William Penn gründete in Pennsylvania seine Kolonie als Zufluchtshafen für die verfolgten englischen »Freunde«, und ein dreiviertel Jahrhundert lang gab es in Pennsylvania keine Soldaten und nur ein paar Polizisten. Shaman fragte sich, wie sie wohl mit den Trunkenbolden zurechtgekommen sein mochten. Als er Cliburns Bücher beiseite legte, hatte er weder etwas über die Gewaltlosigkeit erfahren, noch fühlte er das Innere Licht in sich.

Die ersten Septembertage waren warm, aber die Luft war klar und frisch. Er ritt, sooft er konnte, auf dem Weg zu seinen Hausbesuchen am Fluss entlang und erfreute sich an dem in der Sonne glitzernden, träge dahinziehenden Wasser und der stelzbeinigen Grazie der Watvögel, die jedoch nicht mehr sehr zahlreich waren, da viele schon den Weg in den Süden angetreten hatten.

Eines Abends sah er auf dem Heimweg am Flussufer unter einem Baum drei bekannte Gestalten sitzen. Rachel entfernte gerade den Haken aus dem Maul eines Fisches, während ihr Sohn die Angelrute hielt, und als sie das zappelnde Tier wieder ins Wasser warf, erkannte Shaman an Hatties Miene, dass die Kleine sich ärgerte. Er lenkte Boss in ihre Richtung. »Hallo!«

»Hallo!« sagte Hattie.

»Sie lässt uns keinen einzigen Fisch behalten«, beschwerte sich Joshua. »Ich wette, es waren alles Welse«, erwiderte Shaman. Rachel hatte nie Welse mit nach Hause bringen dürfen, weil sie schuppenlos und daher nicht koscher waren. Er wusste, dass aber für ein Kind das schönste am Angeln ist, die Familie dabei zu beobachten, wie sie den Fang verspeist. »Ich muss zur Zeit täglich zu Jack Dämon reiten, weil es ihm sehr schlecht geht.

Kennst du die Stelle, wo der Fluss bei seinem Haus eine scharfe Biegung macht?« fragte er Rachel. Sie lächelte ihn an.

»Die, wo die vielen Felsbrocken liegen?«

»Ja. Ich habe neulich gesehen, wie ein paar Jungen prächtige kleine Barsche dort rausgeholt haben.«

»Danke für den Hinweis! Ich werde morgen mit den Kindern dorthin gehen.«

Er betrachtete Hatties Gesicht: Ihr Lächeln ähnelte auffällig dem ihrer Mutter. »Es war schön, euch zu sehen.«

»Es war schön, Sie zu sehen«, antwortete Hattie. Er tippte grüßend an seinen Hut und wendete Boss.

»Shaman!« Rachel machte einen Schritt auf das Pferd zu und schaute zu ihm auf. »Wenn du morgen gegen Mittag zu Jack Dämon reiten würdest, könntest du danach mit uns Picknick machen.«

»Gerne, wenn ich es schaffe.«

Am nächsten Tag beeilte er sich mit der Behandlung von Jack Dämons Atembeschwerden, und als er zu der Flussbiegung kam, entdeckte er den braunen Buckboard der Geigers sofort. Die graue Stute war im Schatten angebunden und graste.

Rachel und die Kinder hatten von den Felsen aus geangelt, und Joshua nahm Shamans Hand und führte ihn zu einem kleinen Tümpel, in dem sechs Schwarzbarsche nebeneinander schwammen. Sie waren mit einer durch die Kiemen gezogenen Angelschnur zusammengebunden, die an einem tiefhängenden Ast befestigt war.

Rachel hatte, sobald sie seiner ansichtig wurde, ein Stück Seife genommen und schrubbte sich die Hände. »Das Essen wird nach Fisch schmecken«, sagte sie fröhlich.

»Das stört mich nicht im geringsten«, antwortete er, und das entsprach der Wahrheit. Es gab gefüllte Eier und eingelegte Gurken dazu und hinterher Limonade und Melassegebäck. Nach dem Essen verkündete Hattie mit ernster Miene, es sei Schlafenszeit, und legte sich mit ihrem Bruder auf eine Decke, um ein Mittagsschläfchen zu machen. Rachel räumte zusammen und verstaute alles in einer großen Tasche. »Du kannst ja eine der Angelruten nehmen und ein bisschen fischen«, meinte sie.