»Nein.« Er wollte viel lieber ihre Lippen im Auge behalten als eine Angelschnur.
Sie nickte und schaute auf das Wasser hinaus. Flussabwärts wogte ein Schwärm Schwalben elegant auf und nieder. Sie kamen wahrscheinlich aus dem Norden und flogen so dicht beieinander, dass es aussah, als seien sie ein einziger großer Vogel, der im Flug kurz das Wasser berührte, bevor er davonschoss.
»Ist es nicht wunderschön hier, Shaman? Ist es nicht gut, wieder zu Hause zu sein?«
»Ja, das ist es, Rachel.«
Eine Weile unterhielten sie sich über das Leben in der Stadt. Er erzählte ihr von Cincinnati und beantwortete ihre Fragen über die Medical School und die Poliklinik.
»Und was ist mir dir - hat dir Chicago gefallen?«
»Es war schön, jederzeit ins Theater oder Konzert gehen zu können . Ich habe jeden Donnerstag in einem Quartett Violine gespielt. Joe war zwar nicht musikalisch, aber er wollte, dass ich spiele. Er war ein sehr lieber Mann«, sagte sie. »Er ging sehr behutsam mit mir um, als ich im ersten Jahr unserer Ehe ein Kind verlor.«
Shaman nickte.
»Aber dann kam Hattie - und der Krieg. Der Krieg beanspruchte alle Zeit, die meine Familie nicht brauchte. Es gab fast tausend Juden in Chicago. Vierundachtzig junge Männer traten in eine jüdische Kompanie ein, und wir sammelten Spenden und staffierten sie aus. Sie bildeten die C-Kompanie der 82. Illinois Infantry. Sie haben sich bei Gettysburg und an anderen Orten verdient gemacht, und ich war stolz auf sie.«
»Aber du bist doch die Tochter von Judah Benjamins Cousine! Und dein Vater ist ein glühender Südstaatenanhänger.«
»Ich weiß. Aber Joe war das nicht, und ich bin es auch nicht. An dem Tag, als der Brief meiner Mutter kam, in dem sie mir schrieb, dass er sich den Konföderierten angeschlossen hat, hatte ich die Küche voll mit Frauen der Hebrew Ladies Soldier Aid Society, die Binden für die Union aufwickelten.« Sie zuckte mit den Achseln. »Und dann kam Joshua. Und dann starb Joe. Das ist meine ganze Geschichte.«
»Bis jetzt«, sagte Shaman, und sie sah ihn an. Er hatte den zarten Schwung ihrer Wangen unter den hohen Backenknochen vergessen, die Üppigkeit ihrer Unterlippe und die Lichter und Schatten in ihren dunklen Augen.
Er hatte nicht vorgehabt, die Frage zu stellen, sie brach einfach aus ihm heraus: »Warst du glücklich in deiner Ehe?« Sie starrte auf den Fluss. Einen Augenblick dachte er, er habe ihre Antwort übersehen, doch dann wandte sie sich ihm wieder zu. »Ich würde lieber sagen: zufrieden. Im Grunde hatte ich resigniert.«
»Ich bin noch nie zufrieden gewesen, und ich habe auch noch nie resigniert«, antwortete er verwundert.
»Du gibst nie auf, du kämpfst immer weiter, das macht deine Persönlichkeit aus, Shaman. Du musst mir versprechen, Shaman, dass du es dir niemals gestatten wirst, zu resignieren.«
Hattie wachte auf, kam zu ihrer Mutter und kuschelte sich in ihren Schoß.
»Versprich es mir«, bedrängte ihn Rachel. Shaman lächelte.
»Ich verspreche es.«
»Warum reden Sie so komisch?« wollte Hattie wissen.
»Rede ich komisch?« fragte er eher Rachel als das Kind.
»Ja!« Hattie nickte.
»Du sprichst gutturaler als vor meinem Weggang«, sagte Rachel vorsichtig. »Und du scheinst deine Stimme nicht mehr so gut kontrollieren zu können.«
Er nickte und erzählte ihr von seiner Schwierigkeit, als er im Theater versucht hatte zu flüstern.
»Machst du noch deine Übungen?« fragte sie, und er sah, wie bestürzt sie war, als er zugab, dass er seit seinem Abschied von Holden’s Crossing kann noch daran gedacht hatte, weil sein Studium ihn so in Anspruch nahm.
»Ich hatte keine Zeit für Sprachübungen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Arzt zu werden.«
»Aber jetzt darfst du die Zügel nicht mehr schleifen lassen. Du musst mit den Übungen wieder anfangen! Wenn du sie nicht immer wieder machst, vergisst du, wie man spricht. Wenn du willst, arbeite ich wieder mit dir, wie wir es früher gemacht haben.« Ihre Augen verrieten Besorgnis. Die Flussbrise spielte mit ihren offenen Haaren, und das kleine Mädchen, das ihre Augen und ihr Lächeln hatte, lehnte sich lächelnd an ihre Brust. Rachel hielt den Kopf sehr hoch, und die kräftige, edle Linie ihres Nackens erinnerte Shaman an das Bild einer Löwin, das er einmal gesehen hatte.
Ich weiß, dass ich es kann, Miss Burnham. Er erinnerte sich an das junge Mädchen, das sich bereit erklärt hatte, einem kleinen tauben Jungen beim Sprechen zu helfen. Wie sehr er sie geliebt hatte! »Ich wäre dir sehr dankbar, Rachel«, sagte er mit fester Stimme, wobei er darauf achtete, die erste Silbe von »dankbar« zu betonen und am Ende des Satzes mit der Stimme herunterzugehen.
Sie hatten verabredet, sich für die Übungen auf halber Strecke zwischen ihren Häusern auf dem Langen Weg zu treffen. Er war sicher, dass sie Lillian nichts davon erzählt hatte, und sah keine Veranlassung, es seiner Mutter gegenüber zu erwähnen. Am ersten Tag erschien Rachel pünktlich um drei Uhr in Begleitung ihrer Kinder, denen sie den Auftrag gab, entlang des Pfades Haselnüsse zu sammeln. Rachel setzte sich auf die mitgebrachte Decke und lehnte sich mit dem Rücken an eine Eiche. Er ließ sich ihr gegenüber nieder. Die Übung, die sie ausgewählt hatte, bestand darin, dass sie ihm einen Satz vorsprach, den er von ihren Lippen ablas und mit der richtigen Lautstärke und Betonung wiederholen musste. Um ihm zu helfen, hielt sie seine Finger und drückte sie jeweils, um ihm zu zeigen, wann ein Wort oder eine Silbe betont werden sollte. Ihre Hand war trocken und warm und vermittelte so wenig Gefühle, als hielte sie ein Bügeleisen. Seine eigene erschien ihm dagegen heiß und schweißnass, doch er verlor seine Befangenheit, als er sich auf die Aufgaben konzentrierte, die sie ihm stellte.
Seine Sprache hatte sich mehr verschlechtert, als er befürchtet hatte, und sich damit auseinanderzusetzen war kein Vergnügen. Er war erleichtert, als schließlich die Kinder zurückkamen, die einen Eimer schleppten. Er war fast zur Hälfte mit Nüssen gefüllt, und Rachel sagte, sie werde sie zu Hause mit einem Hammer zerschlagen, die Kerne herausnehmen, und dann ein Nussbrot backen, von dem Shaman auch etwas abbekommen werde. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zu einer weiteren Übungsstunde, doch als er nach der Sprechstunde mit den Hausbesuchen begann, stellte er beim ersten fest, dass Jack Dämon den Kampf gegen die Tuberkulose verloren hatte. Er blieb bei dem Sterbenden und versuchte, ihn zu beruhigen. Als das Ende kam, war es zu spät, um Rachel zu treffen, und er ritt bedrückt nach Hause. Der folgende Tag war ein Samstag. Im Haushalt der Geigers wurde der Sabbat strikt eingehalten, und so gab es keine Übungsstunde mit Rachel. Doch nach der Sprechstunde ging Shaman seine Stimmübungen allein durch. Er fühlte sich wurzellos und unzufrieden mit seinem Leben, was jedoch nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. Am Nachmittag nahm er sich wieder Cliburns Bücher vor und las weitere Ausführungen über die Gewaltlosigkeit und die Quäkerbewegung, und am Sonntag stand er früh auf und ritt nach Rock Island. Der Futtermittelhändler beendete gerade sein Frühstück, als Shaman eintraf. George stellte die Bücher ins Regal, bot ihm eine Tasse Kaffee an und nickte ohne erkennbare Überraschung, als Shaman ihn fragte, ob er zu dem Quäkertreffen mitkommen dürfe.
George Cliburn war Witwer. Er hatte zwar eine Haushälterin, doch Sonntag war ihr freier Tag. Cliburn war ein ordentlicher Mann. Shaman wartete, bis er das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatte, und bekam die Erlaubnis abzutrocknen. Sie ließen Boss im Stall und fuhren mit Cliburns Wagen, und auf dem Weg erzählte Cliburn ihm einiges über das Treffen.