»Wir betreten das Versammlungshaus, ohne zu sprechen, und setzen uns: die Männer auf die eine, die Frauen auf die andere Seite. Ich denke, das ist so geregelt, damit die Teilnehmer nicht abgelenkt werden. Die Leute sitzen schweigend da, bis Gott einem die Last der Leiden dieser Welt aufbürdet, und dann steht diese Person auf und spricht.«
Cliburn gab Shaman den Rat, sich in die Mitte oder den hinteren Teil des Versammlungsraums zu setzen. Sie würden nicht beieinander sitzen. »Es ist Brauch, dass die Ältesten, die schon viele, viele Jahre für die Society of Friends gearbeitet haben, vorne sitzen.« Er beugte sich vertraulich zu Shaman. »Es gibt Quäker, die uns da vorne
>einflussreiche Freunde< nennen.« Er lachte.
Das Versammlungshaus war klein und schmucklos, ein weißer Kasten mit Flachdach, weißgetünchten Wänden und grauem Boden. Dunkel gebeizte Bänke waren in U-Form aufgestellt, was allen ermöglichte, einander anzusehen. Vier Männer saßen bereits da. Shaman nahm auf einer rückwärtigen Bank nahe bei der Tür Platz -
wie jemand, der vorsichtig eine Zehe ins Wasser hält, um die Temperatur zu prüfen. Ihm gegenüber saßen ein halbes Dutzend Frauen, und es hatten sich acht Kinder eingefunden. Die Ältesten waren wirklich alle in fortgeschrittenem Alter. George und fünf seiner »einflussreichen Freunde« saßen im vorderen Teil des Raumes auf einer Bank, die auf einer dreißig Zentimeter hohen Empore stand.
Es herrschte eine Stille wie in Shamans tauber Welt. Von Zeit zu Zeit kamen neue Leute und ließen sich schweigend nieder. Schließlich kam niemand mehr. Shaman zählte elf Männer, vierzehn Frauen und zwölf Kinder. Und alle saßen in tiefem Schweigen da.
Es war erholsam. Er dachte an seinen Vater und hoffte, dass er seinen Frieden gefunden hatte.
Und er dachte an Alex. Bitte, schickte er ein Gebet in die vollkommene Stille, die er mit den übrigen teilte, bitte, lass meinen Bruder nicht bei den Hunderttausenden sein, die den Tod gefunden haben! Bitte, schick mir den lieben, verrückten Ausreißer gesund zurück! Und dann dachte er an Rachel, doch in diesem Zusammenhang wagte er nicht zu beten. Er dachte an Hattie, die die Augen und das Lächeln ihrer Mutter hatte, und viel redete.
Er dachte an Joshua, der kaum sprach, ihn aber immer anzusehen schien.
Ein Mann in den mittleren Jahren erhob sich von einer Bank ganz in Shamans Nähe. Er war mager und wirkte zerbrechlich. »Dieser schreckliche Krieg geht endlich dem Ende zu«, sagte er. »Sehr langsam zwar, aber wir wissen, dass er nicht ewig fortdauern kann. Viele Zeitungen machen sich für die Wahl von General Fremont zum Präsidenten stark. Sie sagen, Präsident Lincoln werde den Süden zu sanft behandeln, wenn der Frieden kommt.
Sie sagen, es sei keine Zeit für Nachsicht und Verzeihen, sondern Zeit für Rache an der Bevölkerung der Südstaaten.« Er räusperte sich.
»Lukas sagt: >Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!< Und Jesus sagt: >Wenn dein Feind hungert, dann gib ihm zu essen, und wenn ihn dürstet, gib ihm zu trinken !< Wir müssen die Sünden vergeben, die beide Seiten in diesem entsetzlichen Krieg begangen haben, und dafür beten, dass bald die Worte des Psalms wahr werden, dass Gnade und Wahrheit Hand in Hand gehen und Rechtschaffenheit und Frieden einander küssen. >Selig sind, die da Leid tragen - denn sie werden getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.« Er setzte sich hin, und wieder herrschte tiefe Stille.
Eine Frau, die Shaman fast genau gegenübersaß, stand auf und sagte, sie bemühe sich darum, einem Menschen zu verzeihen, der ihrer Familie schlimmes Unrecht zugefügt habe. Sie wünsche sich, dass ihr Herz von Hass frei werde und sie Barmherzigkeit und verzeihende Liebe üben könne, doch sie liege mit sich selbst im Kampf, weil sie den Wunsch, zu verzeihen, nicht stark genug verspüre. Sie bat ihre Freunde zu beten, damit ihr die nötige Kraft gegeben werde. Als sie sich hinsetzte, stand eine andere Frau auf, die in der entgegengesetzten Ecke saß, und so konnte Shaman ihre Lippen nicht gut genug sehen, um zu verstehen, was sie sagte.
Nach einer Weile ließ auch sie sich wieder nieder, und es herrschte Schweigen, bis ein Mann in der Nähe des Fensters sich erhob. Er war in den Zwanzigern und hatte ein ernstes Gesicht. Er sagte, er müsse eine wichtige Entscheidung fällen, die sich auf den Rest seines Lebens auswirken werde. »Ich brauche die Hilfe Gottes und die eurer Gebete«, sagte er und setzte sich.
Danach meldete sich niemand mehr zu Wort. Die Zeit verging, und schließlich sah Shaman, wie George Cliburn seinem Nachbarn die Hand schüttelte. Das war das Zeichen für die Beendigung der Versammlung. Mehrere Leute in Shamans Nähe gaben ihm die Hand, und dann strebten alle dem Ausgang zu. Es war der merkwürdigste Gottesdienst gewesen, dem Shaman je beigewohnt hatte. Auf dem Rückweg zu Cliburns Haus war er sehr nachdenklich. »Wird von einem Quäker erwartet, dass er jedes Verbrechen vergibt? Und was ist mit der Befriedigung, wenn das Recht über das Böse siegt?«
»Oh, wir glauben sehr wohl an die Gerechtigkeit«, antwortete Cliburn. »Aber wir glauben nicht an Rache und Gewalt.» Shaman wusste, dass sein Vater sich danach gesehnt hatte, Makwa-ikwas Tod zu rächen, und auch er wünschte es sich. »Würden Sie gewalttätig werden, wenn Sie miterlebten, wie jemand Ihre Mutter erschießt?«
fragte er und war befremdet, als Cliburn kicherte. »Früher oder später stellt diese Frage jeder, der sich mit Gewaltlosigkeit beschäftigt. Meine Mutter ist schon lange tot, aber sollte ich jemals in eine ähnliche Situation kommen, werde ich darauf vertrauen, dass Gott mir den richtigen Weg weist. Schauen Sie, Shaman, nichts, was ich sage, wird Sie dazu bringen, Gewalt abzulehnen. Es kommt nicht von hier«, er deutete auf seine Lippen,
»und es kommt nicht von hier«, er berührte Shamans Stirn. »Wenn es geschieht, dann kommt es von hier«, und er tippte Shaman auf die Brust. »Und bis es soweit ist, müssen Sie weiterhin Ihr Schwert umgürten«, sagte er, als sei Shaman ein Römer oder ein Westgote und nicht ein tauber Mann, den man nicht zum Kriegsdienst zugelassen hatte. »Wenn Sie eines Tages Ihr Schwert ablegen und es fortwerfen, werden Sie es tun, weil Sie erkennen, dass Sie keine andere Wahl haben«, sagte Cliburn, schnalzte mit der Zunge und gab seinem Pferd die Zügel.
Das Ende des Tagebuchs
»Wir sind heute bei den Geigers zum Tee eingeladen«, erzählte Shamans Mutter ihrem Sohn. »Rachel sagte, wir müssten unbedingt kommen, es habe etwas mit den Kindern und Haselnusssträuchern zu tun.«
Also gingen sie am Nachmittag auf dem Langen Weg zu den Geigers und nahmen im Esszimmer Platz. Rachel brachte ein neues Herbstcape aus tannengrüner Wolle herein, um es Sarah zu zeigen. »Gesponnen aus Cole-Wolle!« Ihre Mutter habe es für sie angefertigt, da ihr Trauerjahr vorüber sei, sagte sie, und alle machten Lillian Komplimente über die schöne Arbeit.
Rachel meinte, sie werde das Cape am nächsten Montag auf ihrer Reise nach Chicago tragen.
»Wirst du lange fort sein?« fragte Sarah. »Nur ein paar Tage.«
»Geschäftlich«, erklärte Lillian mit deutlicher Missbilligung. Als Sarah, um das Thema zu wechseln, hastig das Aroma des englischen Tees lobte, seufzte Lillian und sagte, sie sei sehr froh, ihn zu haben. »Es gibt im ganzen Süden kaum Kaffee und keinen anständigen Tee. Jay schreibt, Kaffee und Tee kosten in Virginia fünfzig Dollar das Pfund.«
»Dann hast du also von ihm gehört?«
»Ja. Es geht ihm gut. Gott sei Dank!«
Hattie strahlte, als ihre Mutter mit dem noch ofenwarmen Nussbrot hereinkam.
»Wir haben es gemacht!« verkündete sie. »Mama hat die Zutaten in eine Schüssel getan und umgerührt, und dann haben ich und Joshua die Nüsse reingestreut.«