Er fand, das sei eine gute Idee, und verließ sie, ging in sein Zimmer hinauf, verstaute seine Sachen in Kleiderschrank und Kommode und lief dann die fünf Stockwerke wieder hinunter, um die Toilette hinter dem Hotel aufzusuchen, die erfreulich sauber und gepflegt war. Auf dem Rückweg nach oben verhielt er einen Augenblick am Treppenabsatz zum dritten Stock und schaute den Korridor entlang zu ihrem Zimmer, dann setzte er seinen Weg fort.
Am Morgen machte er sich gleich nach dem Frühstück auf die Suche nach der Bridgeton Street, die, wie sich herausstellte, in einem Arbeiterviertel mit hölzernen Reihenhäusern lag. Als er an die Tür von Nummer 237
klopfte, öffnete ihm eine verhärmt aussehende junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, an deren Rockzipfel ein Junge hing.
Als Shaman nach Reverend David Goodnow fragte, schüttelte sie den Kopf. »Der wohnt schon seit über einem Jahr nicht mehr hier. Er ist sehr krank, wie ich gehört habe.«
»Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?«
»Ja. Er ist in einem... in einer Art Krankenhaus. Wir haben ihn noch nie gesehen. Die Miete schicken wir jeden Monat dorthin. Das hat sein Anwalt so mit uns vereinbart.«
»Könnten Sie mir den Namen des Krankenhauses sagen? Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm spreche.«
Sie nickte. »Ich habe ihn aufgeschrieben.« Sie verschwand, kam jedoch gleich darauf, gefolgt von ihrem kleinen Sohn, mit einem Zettel in der Hand zurück.
»Es ist das Dearborne Asylum«, sagte sie, »in der Säble Street.«
Das Schild wirkte bescheiden und vornehm und bestand aus einer Bronzeplatte, die in die mittlere Säule des Portikus eingelassen war: Dearborne Asylum für Trinker und Geisteskranke. Es war ein dreistöckiges, rotes Ziegelgebäude, und die schweren Eisengitter vor den Fenstern passten zu den aufgereihten Eisenspitzen auf der den Bau umgebenden Ziegelmauer.
Hinter der Mahagonitür lag eine kleine, düstere Eingangshalle mit zwei Rosshaarsesseln. In dem angrenzenden Büro saß ein Mann mittleren Alters an einem Schreibtisch und machte Eintragungen in ein großes Journal. Als Shaman sein Anliegen vortrug, nickte er. »Mr. Goodnow hat schon seit Ewigkeiten keinen Besuch bekommen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass überhaupt mal jemand da war. Bitte, tragen Sie sich in die Besucherliste ein, ich hole inzwischen Dr. Burgess.
Wenige Minuten später erschien der Arzt, ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und einem schütteren Schnurrbart. »Gehören Sie zur Familie, oder sind Sie ein Freund, Dr. Cole? Oder ist Ihr Besuch beruflicher Natur?«
»Ich kenne Leute, die Mr. Goodnow kennen«, antwortete Shaman vage. »Ich bin nur kurze Zeit in Chicago und dachte, ich könnte mal vorbeischauen.«
Dr. Burgess nickte. »Besuchszeit ist zwar am Nachmittag, aber für einen vielbeschäftigten Arzt können wir eine Ausnahme machen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«
Sie stiegen eine Treppe hinauf, und dort klopfte der Arzt an eine verschlossene Tür, die von einem kräftigen Pfleger geöffnet wurde. Der gedrungene Mann führte sie einen langen Gang hinunter, an dessen Wänden Frauen saßen, die Selbstgespräche führten oder ins Nichts starrten. Sie umgingen eine Urinpfütze, und Shaman sah verschmierte Exkremente auf dem Boden. In manchen der offenen Zimmer, die von dem Flur abgingen, waren Frauen an die Wand angekettet. Shaman hatte während seines Studiums vier deprimierende Wochen im Ohio State Asylum für Geisteskranke gearbeitet und war nicht überrascht von dem, was er hier sah und roch. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er es begrüßte, nicht hören zu können. Der Pfleger sperrte einen weitere Türe auf und geleitete sie durch einen Korridor zur Männerabteilung, die nicht besser aussah als die der Frauen.
Schließlich wurde Shaman in einen kleinen Raum komplimentiert, der einen Tisch und mehrere Holzstühle enthielt, und gebeten zu warten.
Kurz darauf kamen der Arzt und der Pfleger zurück und brachten einen Mann um die Vierzig mit, der eine Arbeitshose, an deren Schlitz mehrere Knöpfe fehlten, und eine schmierige Jacke über der Unterwäsche trug. Er hätte dringend einen Haarschnitt gebraucht, und sein grauer Bart wucherte. Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen, doch sein Blick war abwesend. »Das ist Mr. Goodnow«, stellte Dr. Burgess ihn vor. »Mr. Goodnow, ich bin Dr. Cole.« Das Lächeln blieb. Die Augen sahen ihn nicht. »Er kann nicht sprechen«, erklärte Dr. Burgess.
Trotzdem stand Shaman von seinem Stuhl auf und trat nahe an den
Mann heran. »Mr. Goodnow, nannten Sie sich früher Ellwood R. Patterson?«
»Er hat seit mehr als einem Jahr kein Wort mehr gesagt«, erklärte Dr. Burgess geduldig.
»Mr. Goodnow, haben Sie die Indianerin getötet, die Sie in Holden’s Crossing vergewaltigt haben? Als Sie für den Supreme Order of the Star-Spangled Banner dorthin kamen?« Dr. Burgess und der Pfleger starrten Shaman verblüfft an. »Wissen Sie, wo ich Hank Cough finden kann?« Keine Antwort.
Noch einmal, in schärferem Ton: »Wo kann ich Hank Cough finden?«
»Er hat Syphilis. Ein Teil seines Gehirns ist durch Parese zerstört«, unterbrach Dr. Burgess das Verhör. »Woher wissen Sie, dass er nicht simuliert?«
»Wir haben ihn unter ständiger Beobachtung, und wir wissen es. Warum sollte jemand simulieren, um so leben zu können?«
»Vor Jahren war dieser Mann an einem unmenschlichen, grässlichen Verbrechen beteiligt. Es widerstrebt mir zutiefst, mich damit abzufinden, dass er der Bestrafung entgehen wird«, sagte Shaman bitter. Speichel tropfte aus David Goodnows Mund. Dr. Burgess sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er der Bestrafung entgangen ist.«
Shaman wurde durch die Stationen zur Eingangstür begleitet, wo Dr. Burgess sich höflich von ihm verabschiedete und nebenbei bemerkte, dass die Anstalt Einweisungen von Ärzten aus West-Illinois begrüße.
Als Shaman auf die Straße trat, blendete ihn zunächst das helle Sonnenlicht. Die Gerüche der Stadt erschienen ihm auf einmal wie Veilchenduft. Mehrere Häuserblocks wanderte er tief in Gedanken entlang. Er hatte das Gefühl, am Ende eines Weges angelangt zu sein. Einer der Männer, die Makwa-ikwa umgebracht hatten, war tot, der zweite, wie er sich gerade überzeugt hatte, in einer Hölle gefangen, und der Verbleib des dritten war unbekannt.
Er kam zu dem Schluss, dass Miriam Ferocia recht hatte: Es war an der Zeit, Makwas Mörder dem göttlichen Richterspruch zu überlassen und sich auf die Medizin und sein eigenes Leben zu konzentrieren.
Er fuhr mit einer Pferdebahn ins Zentrum der Stadt und von dort mit einer anderen zum Chicago Hospital, das ihn stark an die Poliklinik in Cincinnati erinnerte. Es war ein gutes Krankenhaus und mit fast fünfhundert Betten ein großes. Als er um ein Gespräch mit dem Direktor bat und sein Anliegen vorbrachte, wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Der diensthabende Arzt brachte ihn zu einem der Oberärzte, und die beiden Männer berieten Shaman hinsichtlich der Ausrüstung und Einrichtung, die ein kleines Krankenhaus brauchen würde. Der Einkäufer des Krankenhauses empfahl ihm Firmen, die zuverlässigen Service und vernünftige Preise boten, und erkundigte sich beim Verwalter über die Menge der Wäsche, die nötig war, um jedes Bett stets sauber bezogen halten zu können. Shaman machte sich eifrig Notizen. Als er kurz vor drei ins Palmer’s Illinois House Hotel zurückkam, saß Rachel schon wartend in der Halle. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass der Tag zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. »Es ist alles erledigt. Um die Firma brauche ich mich nicht mehr zu kümmern«, sagte sie. Sie erzählte ihm, dass der Anwalt bereits alle notwendigen Dokumente vorbereitet gehabt habe und der größte Teil des Verkaufserlöses für Hattie und Joshua treuhänderisch angelegt worden sei.
»Das müssen wir feiern!« Die düstere Stimmung, die ihn seit der Begegnung mit David Goodnow umfangen hatte, war gebannt. Sie nahmen die erste der prächtigen Kutschen, die aufgereiht vor dem Hotel standen. Shaman wollte weder die Konzerthalle noch die neue Börse sehen, ihn interessierte nur eines an Chicago: »Zeig mir die Orte, die dir wichtig waren, als du hier gelebt hast!«