Der Kutscher war auch stolz auf dieses Schmuckstück der Stadt und hatte es wohl schon sehr oft erläutert. Er berichtete Shaman, dass der Zaun vier Meter hoch sei, aus »einheimischen Brettern« bestehe und über dreißig Morgen umschließe, auf denen zehntausend gefangene Konföderierte lebten. »Waren auch schon Zwölftausend Rebellen da drin«, sagte er.
Er wies besonders darauf hin, dass an der Außenseite der Wand, einen guten Meter unterhalb der Oberkante, ein Steg verlaufe, auf dem bewaffnete Wachen patrouillierten.
Sie fuhren die West Water Street hinunter, wo geschäftstüchtige Einheimische aus dem Lager einen Menschenzoo gemacht hatten: Ein dreistöckiger Holzturm, in dem eine Treppe zu einer mit einem Geländer umgebenen Aussichtsplattform führte, gestattete es jedem, der dafür fünfzehn Cent bezahlte, dem Treiben der Männer im Lager zuzusehen.
»Früher waren es zwei Türme. Und jede Menge Erfrischungsstände. Haben Kuchen, Kräcker, Erdnüsse, Limonade und Bier an die Leute verkauft, die den Gefangenen zugucken wollten. Aber die blöde Army hat sie geschlossen.«
»Schlimm.«
»Ja. Soll ich anhalten, damit Sie raufsteigen und sich die Sache ansehen können?«
Shaman schüttelte den Kopf. »Bitte, setzen Sie mich einfach am Haupteingang ab«, sagte er.
Ein sehr kriegerisch wirkender Schwarzer bewachte den Eingang. Anscheinend waren die meisten der Wachen dunkelhäutig. Shaman folgte einem ebenfalls schwarzen gemeinen Soldaten in eine Schreibstube, wo er sich einem Sergeanten vorstellte und um Erlaubnis bat, den Gefangenen Alexander Bledsoe zu besuchen. Der Sergeant beriet sich mit einem Leutnant, der in einem winzigen Büro hinter einem Schreibtisch saß, kam dann wieder heraus und murmelte, dass aus Washington ein Empfehlungsschreiben zugunsten von Dr. Cole vorliege, ein Umstand, der Shaman freundlicher über Nicholas Holden denken ließ.
»Besuchszeit höchstens neunzig Minuten.« Er erfuhr, dass der Gemeine ihn zu seinem Bruder im Zelt 8-C
führen werde, und er folgte dem Schwarzen über gefrorene Wurzeln tief in das Lager hinein. Wohin er auch sah, schlaffe, elende, schlecht gekleidete Gefangene. Er begriff sofort, dass sie alle halb verhungert waren. An einem umgestürzten Fass sah er zwei Männer stehen, die eine Ratte häuteten. Sie gingen an einer Anzahl niederer Holzbaracken vorbei. Hinter den Baracken standen Reihen von Zelten, und hinter den Zelten sah man einen langen, schmalen Teich, der offensichtlich als Abwassergrube benutzt wurde, denn je näher Shaman ihm kam, desto stärker wurde der Gestank.
Schließlich blieb der Schwarze vor einem Zelt stehen. »Das ist 8-C, Sir«, sagte er, und Shaman dankte ihm.
Im Inneren fand er drei ausgehungerte, frierende Männer. Er kannte sie nicht und befürchtete zunächst, dass einer von ihnen bloß ein Namensvetter von Alex sei und er aufgrund einer Verwechslung den langen Weg auf sich genommen habe. »Ich suche Corporal Alexander Bledsoe.«
Einer der Gefangenen, ein halber Junge noch, dessen dunkler Schnurrbart in seinem knochigen Gesicht viel zu groß wirkte, deutete auf etwas, das aussah wie ein Haufen Lumpen. Shaman ging vorsichtig darauf zu, als lauere ein wildes Tier unter dem schmutzigen Bündel, das aus zwei Futtersäcken, einem Stück Teppich und etwas, das früher einmal ein Mantel gewesen sein mochte, bestand. »Wir decken ihn wegen der Kälte bis übers Gesicht zu«, sagte der mit dem dunklen Schnurrbart, bückte sich und zog einen Futtersack beiseite. Es war sein Bruder, und doch auch wieder nicht. Auf der Straße wäre Shaman wahrscheinlich an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu erkennen, denn Alex hatte sich sehr verändert. Er war sehr dünn, und Erlebnisse, über die Shaman lieber nicht nachdachte, hatten tiefe Altersfurchen in sein Gesicht gegraben. Shaman nahm die Hand seines Bruders. Nach einer Weile öffnete Alex die Augen und starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen.
»Bigger!« sagte Shaman, doch mehr brachte er nicht heraus. Alex blinzelte ihn verwundert an. Die Erkenntnis kroch in sein Gesicht wie eine Flutwelle, die langsam von einer wüsten Küste Besitz ergreift, und er begann zu weinen. »Ma und Pa?«
Es waren die ersten Worte, die Alex sagte, und Shaman log, ohne lange zu überlegen. »Sie sind beide wohlauf.«
Die Brüder saßen nebeneinander und hielten sich bei den Händen. Es gab so viel zu sagen, so viel zu fragen und zu erzählen, dass ihnen anfangs die Worte fehlten. Und als Shaman dann zu reden begann, merkte er, dass Alex nicht in der Lage war zuzuhören. Trotz seiner Aufregung nickte er immer wieder ein, und daran erkannte Shaman, wie krank sein Bruder war.
Er stellte sich den anderen vier Männern vor und erfuhr ihre Namen: Berry Womack aus Spartanburg in South Carolina, klein und eindringlich, mit langen, aschblonden Haaren; Fox J. Byrd aus Charlottesville in Virginia, der ein verschlafenes Gesicht und eine schlaffe Haut hatte, als sei er früher fett gewesen; James Joseph Waldron aus Van Buren in Arkansas, stämmig, dunkel und der Jüngste im Zelt, kaum älter als siebzehn, wie Shaman vermutete; und schließlich Barton O. Westmoreland aus Richmond in Virginia, der Junge mit dem großen Schnurrbart, der Shaman heftig die Hand schüttelte und ihn bat, ihn Buttons zu nennen.
Während Alex schlief, untersuchte Shaman ihn. Sein linker Fuß war nicht mehr da.
» ... Wurde er angeschossen?«
»Nein, Sir«, erwiderte Buttons. »Ich war dabei. Am 16. Juli letzten Jahres wurde ein ganzer Haufen von uns mit dem Zug aus einem Gefangenenlager in Maryland hierhergebracht. Ja, und in Pennsylvania kam es zu einem schrecklichen Zugunglück... in Sholola. Achtundvierzig Kumpel und siebzehn Wachen wurden getötet. Man hat sie einfach auf einem Feld neben den Schienen begraben wie nach einer Schlacht. Fünfundachtzig von uns waren verletzt. Alex’ Fuß war so zerquetscht, dass sie ihn abschneiden mussten. Ich hatte Glück, hatte mir nur die Schulter ausgerenkt.«
»Eine Zeitlang hat sich Ihr Bruder recht gut gehalten«, sagte Berry Womack. »Jimmie-Joe hat ihm Krücken gemacht, und er war recht geschickt mit ihnen. Er hat in unserem Zelt den Krankenpfleger gespielt und sich gut um uns alle gekümmert. Hätt’ Ihrem Vater ein bisschen was abgeschaut, hat er gesagt.«
»Wir nennen ihn deshalb Doc«, ergänzte Jimmie-Joe Waldron. Als Shaman Alex’ Bein anhob, sah er, dass hier die Ursache seiner Probleme steckte. Die Amputation war schlecht ausgeführt. Das Bein war zwar noch nicht brandig, aber die eine Hälfte des ausgefransten Stumpfes war nicht verheilt, und unter dem Narbengewebe des verheilten Teils hatte sich Eiter gesammelt.
»Sind Sie wirklich ein Doktor?« fragte Waldron, als er das Stethoskop sah. Shaman drückte Alex die Schallmuschel auf die Brust und war froh, aus den Angaben der Männer schließen zu können, dass die Lunge frei war. Aber Alex hatte Fieber, sein Puls war schwach und fadenförmig.
»Hier im Lager gibt’s alle möglichen Seuchen, Sir«, sagte Buttons. »Pocken, verschiedene Fieber, Malaria und Schüttelfrost. Was glauben Sie, was ihm fehlt?«
»Sein Bein stirbt ab«, erwiderte Shaman seufzend. Es war offensichtlich, dass Alex darüber hinaus an Unterernährung und Unterkühlung litt wie die anderen Männer im Zelt auch. Sie erzählten Shaman, dass einige Zelte Blechöfen und Decken hätten, doch in den meisten gab es keins von beidem. »Was essen Sie?«
»Am Morgen bekommt jeder ein Stück Brot und ein kleines Stück schlechtes Fleisch«, sagte Buttons Westmoreland. »Am Abend bekommt jeder ein Stück Brot und eine Tasse mit einer Brühe, die sie Suppe nennen
- das Wasser, in dem das schlechte Fleisch gekocht wurde.«
»Kein Gemüse?«
Alle drei schüttelten den Kopf, doch er kannte die Antwort bereits. Schon beim Betreten des Lagers hatte er überall die Anzeichen von Skorbut bemerkt.
»Als wir hier ankamen, waren wir zehntausend«, sagte Buttons. »Es kommen zwar immer neue Gefangene dazu, aber von den ersten zehntausend sind nur noch fünftausend übrig. Die Leichenhalle ist immer überfüllt, und gleich hinter dem Lager ist ein riesiger Friedhof. Jeden Tag sterben an die fünfundzwanzig Männer.« Shaman setzte sich auf den kalten Boden, hielt Alex’ Hände und betrachtete sein Gesicht. Alex schlief weiter, einen ungesunden tiefen Schlaf.