Augenblicke später streckte die Wache den Kopf durch die Zeltluke und sagte, die Besuchszeit sei vorüber.
In der Schreibstube hörte der Sergeant teilnahmslos zu, als Shaman sich als Arzt auswies und ihm die Symptome seines Bruders schilderte. »Ich hätte gern die Erlaubnis, ihn mit nach Hause zu nehmen. Wenn er hier bleiben muss, stirbt er.«
Der Sergeant stöberte in einem Karteikasten, zog eine Karte heraus und las sie. »Ihr Bruder hat keinen Anspruch auf Strafaussetzung. Er hat hier den >Ingenieur< gespielt. So nennen wir einen Gefangenen, der versucht, einen Tunnel aus dem Lager zu graben.«
»Einen Tunnel!« rief Shaman verwundert. »Wie konnte er denn graben? Er hat doch nur noch einen Fuß.«
»Er hatte zwei Hände. Und bevor er hierherkam, ist er schon aus einem anderen Lager ausgebrochen, ehe er wieder eingefangen wurde.«
Shaman versuchte es mit einem Appell an den gesunden Menschenverstand. »Hätten Sie das nicht auch versucht? Würde das nicht jeder vernünftige Mensch versuchen?«
Doch der Sergeant schüttelte nur den Kopf. »Wir haben unsere Vorschriften.«
»Darf ich ihm ein paar Sachen bringen?«
»Keine scharfen Gegenstände und nichts aus Metall.«
»Gibt es hier in der Nähe eine Pension?«
»Es gibt so ein Haus, acht Meilen westlich vom Haupttor, die vermieten Zimmer«, erwiderte der Sergeant.
Shaman dankte ihm und nahm sein Gepäck.
Sobald Shaman in seinem gemieteten Zimmer alleine war, nahm er einhundertfünfzig Dollar aus dem Geldgurt und steckte die Scheine in seine Rocktasche. Der Hausknecht war sofort bereit, den neuen Gast gegen ein Entgelt in die Stadt zu fahren. Im Telegraphenamt schickte Shaman eine Nachricht an Nick Holden in Washington: Alex schwer krank. Müssen für seine Freilassung sorgen, sonst stirbt er. Bitte, helfen Sie!
In einem Mietstall lieh er sich ein Pferd und einen Pritschenwagen. »Für ‘n Tag oder für die Woche?« fragte ihn der Stallbesitzer. Shaman mietete für die ganze Woche und zahlte im voraus. Die Gemischtwarenhandlung war größer als die der Haskins, und Shaman belud den Pritschenwagen mit Dingen für die Männer in Alex’ Zelt: Feuerholz, Decken, ein kochfertiges Huhn, eine frische Speckseite, sechs Laib Brot, zwei Scheffel Kartoffeln, einen Sack Zwiebeln, eine Kiste Kohlköpfe.
Der Sergeant riss erstaunt die Augen auf, als er die angekündigten »paar Sachen« sah, die Shaman für seinen Bruder gebracht hatte. »Die täglichen neunzig Minuten, die Ihnen zustehen, haben Sie schon aufgebraucht. Also laden Sie das Zeug ab, und verschwinden Sie!« Als Shaman vor dem Zelt anhielt, schlief Alex noch immer. Aber für die anderen war es wie Weihnachten in besseren Zeiten. Sie riefen ihre Nachbarn herbei, worauf Männer aus einem Dutzend Zelten kamen und Holz und Gemüse erhielten. Eigentlich hatte Shaman mit dem Proviant die Lage der Männer im Zelt 8-C verbessern wollen, doch die zogen es vor, fast alles, was er gebracht hatte, mit den anderen zu teilen.
»Haben Sie einen Topf?« fragte er Buttons.
»Ja, Sir!« Buttons präsentierte ihm eine große, zerbeulte Blechdose. »Kochen Sie eine Suppe aus Hühnerfleisch, Zwiebeln, Kohl, Kartoffeln und Brot. Ich verlasse mich auf Sie, dass sie ihm so viel heiße Suppe einflößen wie möglich.«
»Ja, Sir, das werden wir«, sagte Buttons.
Shaman zögerte. Eine beängstigende Menge der Nahrungsmittel war bereits verschwunden. »Morgen bringe ich noch mehr. Sie müssen versuchen, etwas für die Leute in diesem Zelt zurückzubehalten.« Westmoreland nickte melancholisch. Sie kannten beide die unausgesprochene Bedingung für diese Hilfslieferungen: dass zuerst und vor allem Alex versorgt wurde.
Immer wieder füllte der Vermieter Shamans Wasserglas nach und drängte ihn mit so vergnügter Stimme zu trinken, als biete er ihm Wein an. Das Wasser schmeckte gut, war aber ansonsten, soweit Shaman das beurteilen konnte, ganz gewöhnlich.
»Sogar die Quellen im Gefangenenlager haben ausgezeichnetes Wasser. War Ihr Bruder vielleicht in Maryland wie so viele hier in diesem Lager?« Shaman nickte.
»Dann wird er Ihnen erzählen, dass das Wasser in Maryland das reinste Gift war.«
Shaman konnte den Hinweis nicht unterdrücken, dass trotz des wunderbaren Wassers im Lager in Elmira viele Kriegsgefangene starben. Sein Vermieter nickte. »Von Wasser alleine wird man nicht satt. Die Regierung kümmert sich vor allem um die Kriegführung, nicht um die Ernährung der Gefangenen.« Er seufzte und vertraute Dr. Cole an, es sei allgemein bekannt, dass der Lagerarzt ein trauriges Beispiel für den Berufsstand und besessen von Dämonen sei, die ihn dazu verführten, einen Großteil der Betäubungsmittel, die die Regierung für seine Patienten bereitstelle, selbst zu konsumieren. »Sie müssen versuchen, Ihren Bruder so schnell wie möglich da rauszubekommen!«
Als Shaman am nächsten Morgen ins Zelt kam, schlief Alex, und Jimmie-Joe hielt Wache an seinem Lager.
Jimmie-Joe sagte, Alex habe eine gute Portion Suppe zu sich genommen.
Als Shaman die Decken zurechtstrich, fuhr Alex erschrocken auf, und Shaman klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Ist schon gut, Bigger. Bin doch nur ich, dein Bruder.«
Alex schloss wieder die Augen, doch kurz darauf begann er zu sprechen. »Ist der alte Alden noch am Leben?«
»Ja, freilich.«
»Gut!« Alex schlug die Augen auf, und sein Blick fiel auf das Stethoskop, das aus der Arzttasche herausragte.
»Was machst du mit Pas Tasche?«
»Hab’ sie mir nur ausgeliehen«, erwiderte Shaman heiser. »Ich bin jetzt selber Arzt.«
»Bist du nicht!« sagte Alex, als wären sie noch Kinder, die sich Lügengeschichten auftischen.
»Bin ich doch«, erwiderte Shaman, und die beiden lächelten sich an, bevor Alex wieder in tiefen Schlaf sank.
Shaman maß Alex den Puls, und der gefiel ihm ganz und gar nicht, aber im Augenblick konnte er nichts dagegen tun. Alex war ungewaschen und stank am ganzen Körper, doch als Shaman den Stumpf aufdeckte und sich darüberbeugte, um ihn zu riechen, verließ ihn der Mut. Die Lehrjahre bei seinem Vater und dann bei Lester Berwyn und Barnett McGowan hatten ihn gelehrt, dass nichts Gutes an dem war, was weniger aufgeklärte Ärzte als »löblichen Eiter« begrüßten. Shaman wusste, dass Eiter in einem Schnitt oder einer Wunde oft den Beginn einer Blutvergiftung, einen Abszess oder den Brand anzeigte. Er wusste, was getan werden musste, aber er wusste auch, dass dies im Gefangenenlager nicht getan werden konnte.
Er deckte seinen Bruder mit zwei der neuen Decken zu, hielt dann seine Hände und betrachtete sein Gesicht.
Als der Soldat Shaman nach eineinhalb Stunden aus dem Lager warf, kutschierte er mit seinem Mietwagen auf der Straße entlang des Chemung Richtung Südosten. Das Land war hügeliger als Illinois und waldreicher. Etwa fünf Meilen außerhalb der Stadtgrenze stieß er auf eine Gemischtwarenhandlung, deren Schild verriet, dass der Eigentümer Barnard hieß. Shaman kaufte sich als Mittagessen einige Kräcker und ein Stück Käse und danach zwei Stücke von einem guten Apfelkuchen sowie zwei Tassen Kaffee. Als er den Besitzer nach Unterkunftsmöglichkeiten in der Umgebung fragte, verwies ihn der Mann an eine Mrs. Pauline Clay, die am Rand des etwa eine Meile entfernten Dorfes Wellsburg ein Haus besaß.
Das Haus war, wie sich zeigte, klein und ungetüncht und von Wald umgeben. Im Vorgarten standen vier Rosenbüsche, die gegen den Frost mit Mehlsäcken umwickelt und verschnürt waren. Auf einem kleinen Schild am Zaun stand: Zimmer zu vermieten. Mrs. Clay war eine Frau mit offenem, freundlichem Gesicht. Sie zeigte Mitgefühl, als Shaman von seinem Bruder erzählte, und führte ihn dann durchs Haus. Das Wort »Zimmer« auf dem Schild meinte den Singular, denn sie hatte nur ein Zimmer zu vermieten. »Ihr Bruder könnte das Gästezimmer haben und Sie meins. Ich schlafe oft auf der Couch«, sagte sie.