Sie war deutlich bestürzt, als er ihr sagte, er wolle das ganze Haus mieten.
»Oh, ich fürchte...« Doch dann riss sie überrascht die Augen auf, als er ihr sagte, was er zu zahlen bereit sei. Sie gestand ihm freimütig, dass eine Witwe, die seit Jahren ums nackte Überleben kämpfe, ein solch großzügiges Angebot nicht ausschlagen könne, und wollte zu ihrer Schwester ins Dorf ziehen, solange die Coles in ihrem Haus wohnten. Shaman fuhr noch einmal zu Barnard und belud den Wagen mit Proviant und anderen Dingen, und während er die Sachen ins Haus schaffte, zog Mrs. Clay aus.
Am folgenden Morgen war der Sergeant mürrisch und ausgesprochen kühl, aber offensichtlich war eine Anweisung von Nick Holden gekommen oder vielleicht auch von einem seiner Freunde. Der Sergeant gab Shaman ein bedrucktes Blatt Papier, eine formelle Ehrenerklärung, in der Alex als Gegenleistung für seine Freilassung versprechen musste, »nie wieder gegen die United States Army Waffen zu tragen«.
»Lassen Sie Ihren Bruder das unterschreiben, dann können Sie ihn mitnehmen.«
Shaman hatte seine Zweifel. »Vielleicht ist er nicht kräftig genug, um das zu unterschreiben.«
»Die Vorschrift verlangt, dass er diese Ehrenerklärung abgeben muss, sonst wird er nicht entlassen. Mir ist es gleichgültig, wie krank er ist. Wenn er nicht unterschreibt, geht er nicht.«
Also brachte Shaman Tinte und eine Feder zum Zelt 8-C und unterhielt sich leise mit Buttons vor dem Eingang.
»Glauben Sie, dass Alex das Ding unterschreibt?«
Westmoreland kratzte sich am Kinn. »Na ja, einige sind bereit, es zu unterschreiben, nur um hier rauszukommen.
Andere freilich betrachten es als Schande. Ich weiß nicht, wie Ihr Bruder darüber denkt.« Die Kiste, in der er die Kohlköpfe gebracht hatte, stand neben dem Zelt auf dem Boden. Shaman drehte sie um, legte das Formular darauf und öffnete den Stöpsel des Tintenfässchens. Dann tauchte er die Feder ein und schrieb schnell auf den unteren Rand des Blattes: Alexander Bledsoe.
Buttons nickte zustimmend. »Recht so, Dr. Cole. Sehen Sie zu, dass Sie ihn aus diesem Dreckloch rausbringen!«
Shaman forderte Alex’ Zeltgenossen auf, Namen und Adresse ihrer Angehörigen auf ein Blatt Papier zu schreiben, und er versprach, den Familien die Nachricht zukommen zu lassen, dass die Männer noch am Leben seien.
»Glauben Sie, dass Sie die Briefe durch die Fronten bringen können?« fragte Buttons Westmoreland.
»Wenn ich erst wieder zu Hause bin, schon, glaube ich!«
Shaman beeilte sich. Er gab die Ehrenerklärung beim Sergeanten ab und eilte dann in die Pension, um seinen Koffer zu holen. Er bezahlte den Hausknecht, damit der den Pritschenwagen mit lockerem Stroh auspolsterte, und fuhr dann ins Lager zurück. Ein Sergeant und ein schwarzer Gemeiner überwachten die Zeltgenossen, die Alex auf den Wagen luden und ihn mit Decken zudeckten.
Die Männer von Zelt 8-C gaben Shaman die Hand und riefen Alex zum Abschied Glückwünsche zu: »Mach’s gut, Doc!« - »Lebwohl, alter Bledsoe!« - »Laß dich nicht unterkriegen!« - »Und werd’ wieder gesund!«
Alex, der während der ganzen Zeit die Augen nicht öffnete, zeigte keine Reaktion.
Der Sergeant gab den Befehl zum Aufbruch, und der Gemeine kletterte auf den Bock und nahm die Zügel.
Während er den Wagen zum Haupttor lenkte, musterte Shaman das dunkle, ernsthafte Gesicht, und auf einmal musste er lächeln, denn ihm war eine Stelle aus dem Tagebuch seines Vaters eingefallen.
»Jubilee day!«, sagte er, ein Freudentag! Der Soldat sah ihn zuerst überrascht an, dann lachte er und entblößte seine kräftigen weißen Zähne.
»Ich glaub’, so is’ es, Sir«, sagte er und übergab Shaman die Zügel.
Die Federung des Pritschenwagens war schlecht, und Alex wurde im Stroh hin und her geworfen. Er schrie vor Schmerz auf und stöhnte, als Shaman durch das Haupttor auf die Straße hinausfuhr. Das Pferd zog den Wagen geduldig am Aussichtsturm vorbei und entlang des hohen Holzzauns, der das Lager umgab. Vom Wachsteg aus sah ein Soldat mit einem Gewehr ihnen argwöhnisch nach. Shaman nahm das Pferd fest an die Kandare. Er konnte nicht schneller fahren, ohne Alex Schmerzen zuzufügen, aber er entschied sich auch deshalb für das gemächliche Tempo, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. So unbegründet diese Angst auch sein mochte, so hatte er doch das Gefühl, dass der lange Arm der United States Army jeden Augenblick nach seinem Bruder greifen und ihn zurückholen könnte, und sein Atem ging erst wieder normal, als sie den Holzzaun des Gefangenenlagers und die Stadtgrenze von Elmira hinter sich gelassen hatten.
Das Haus in Wellsburg
Mrs. Clays Haus verströmte eine freundliche Atmosphäre. Es war sehr klein, so dass man nicht lange brauchte, um sich darin zurechtzufinden, und bald war es Shaman so vertraut, als hätte er schon viele Jahre darin gelebt. Er heizte kräftig ein, und der eiserne Feuerkasten im Herd glühte bald dunkelrot. Dann erhitzte er Wasser in Mrs.
Clays größten Kochtöpfen und goss es in die Badewanne, die er vor den Herd gestellt hatte. Als er Alex wie ein Baby in die Wanne setzte, weiteten sich dessen Augen vor Freude.
»Wie lange ist es her, dass du das letzte Mal richtig gebadet hast?« Alex schüttelte langsam den Kopf. Shaman wusste, es war schon so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er wagte es nicht, Alex lange in der Wanne sitzen zu lassen, aus Angst, der Bruder könne sich erkälten, wenn das Wasser abkühlte. Also wusch er ihn sofort mit einem eingeseiften Lappen ab, wobei er versuchte, nicht darauf zu achten, dass Alex’
Rippen sich unter dem Lappen anfühlten wie ein Waschbrett, und er gab sich Mühe, das abgestorbene linke Bein so behutsam wie möglich zu behandeln.
Anschließend setzte er seinen Bruder auf eine Decke vor den Herd, trocknete ihn ab und zog ihm dann ein Flanellnachthemd über. Noch vor wenigen Jahren hätte er die größte Mühe gehabt, Alex die Treppe hinaufzutragen, doch Bigger hatte so viel Gewicht verloren, dass dies jetzt kein Problem mehr für ihn war.
Sobald er Alex im Gästezimmer ins Bett gelegt hatte, machte er sich an die Arbeit. Er wusste genau, was getan werden musste. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten, denn jede Verzögerung hätte die Gefahr nur vergrößert.
Er räumte die Küche bis auf den Tisch und einen Stuhl leer und verstaute die anderen Stühle und die Spülschüssel im Wohnzimmer. Dann bearbeitete er Wände, Boden, Decke, Tisch und Stuhl mit heißem Wasser und kräftiger Seife. Er wusch seine chirurgischen Instrumente und legte sie so auf dem Stuhl zurecht, dass er sie vom Tisch aus leicht erreichen konnte. Zum Abschluss schnitt er sich die Fingernägel und schrubbte sich die Hände.
Als er Alex dann wieder hinuntertrug und auf den Tisch legte, sah sein Bruder so verletzlich aus, dass ihn einen Augenblick lang der Mut verließ. Er hatte sich alles genau überlegt, bis auf diesen Teiclass="underline" Das Chloroform lag bereit, aber er war sich nicht sicher, wieviel er benutzen sollte, da die Verletzung und die Unterernährung Alex stark geschwächt hatten.
»Was ist denn?« murmelte Alex benommen und verwirrt von dem Hinauf- und Hinuntergetragenwerden. »Tiefer atmen, Bigger!«
Er tröpfelte Chloroform auf die Maske und hielt sie Alex so lange vors Gesicht, wie er glaubte, es ohne Risiko tun zu können. Bitte, Gott, steh mir bei! dachte er.
»Alex! Kannst du mich hören?« Shaman kniff ihn in den Arm, schlug ihm leicht auf die Wange, doch sein Bruder schlief tief. Shaman brauchte nun nicht mehr nachzudenken oder zu planen. Er hatte das bereits lange getan. Er zwang jedes Gefühl aus seinem Bewusstsein und konzentrierte sich ganz auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er wollte so viel wie möglich von dem Bein erhalten und gleichzeitig genug wegschneiden, um sicher sein zu können, dass alle infizierten Knochen und Gewebeteile entfernt waren.