Выбрать главу

»Ich hoffe, es war kein Fehler, dass ich ihm gesagt habe, wo Sie wohnen?«

»Aber nein, Mr. Barnard. Ich weiß zwar nicht, wer das gewesen sein könnte, aber vermutlich hat er gemerkt, dass ihm doch keine Zeit für einen Besuch blieb, und so ist er einfach weitergeritten.« Was will denn die Army jetzt noch? dachte Shaman, als er den Laden verließ.

Auf halbem Weg nach Hause überkam ihn plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er widerstand dem Drang, sich einfach umzudrehen und nachzusehen, doch einige Minuten später brachte er das Pferd zum Stehen und stieg ab, um das Zaumzeug zu richten. Dabei sah er sich unauffällig, aber gründlich um. Es war schwierig, in dem dichten Schneetreiben etwas zu erkennen, doch plötzlich wirbelte eine heftige Bö die Flocken hoch, und Shaman sah, dass ihm in einiger Entfernung ein Reiter folgte.

Alex ging es gut, als Shaman zu Hause ankam. Nachdem das Pferd ausgespannt und im Stall versorgt war, stellte Shaman in der Küche Wasser auf den Herd, um aus Fleisch, Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln und weißen Rüben eine kräftige Suppe zu kochen.

Shaman machte sich Sorgen. Er überlegte, ob er Alex anvertrauen solle, was er erfahren hatte, und setzte sich schließlich an das Bett seines Bruders, um es ihm zu erzählen. »Das heißt, wir bekommen vielleicht Besuch von der Army«, schloss er.

Doch Alex schüttelte den Kopf. »Wenn er wirklich von der Army wäre, hätte er gleich an die Tür geklopft...

Jemand wie du, der einen Verwandten aus dem Lager holt, hat doch zwangsläufig Geld bei sich. Es ist wahrscheinlicher, dass er hinter dem her ist... Ich nehme nicht an, dass du eine Waffe hast?«

»Doch.« Shaman ging hinaus und holte den Colt aus seinem Koffer.

Alex bestand darauf, dass er ihn vor seinen Augen reinigte und mit frischen Patronen lud. Als er ihn dann auf den Nachttisch legte, war er noch besorgter als zuvor. »Warum wartet dieser Mann und beobachtet uns nur?«

»Er forscht uns aus... um sicherzugehen, dass wir alleine hier hausen. Um zu sehen, welche Fenster in der Nacht erleuchtet sind, in welchem Zimmer wir uns aufhalten und ähnliches.«

»Ich glaube, wir machen zuviel Aufhebens um die ganze Sache«, sagte Shaman schließlich. »Ich glaube, der Mann, der nach uns gefragt hat, ist wahrscheinlich ein Kundschafter der Army, der nur feststellen will, ob wir nicht auch noch andere Gefangene aus dem Lager holen wollen. Vermutlich werden wir nie wieder etwas von ihm hören.«

Alex zuckte mit den Achseln und nickte. Aber Shaman fiel es schwer, seinen eigenen Worten zu glauben. Falls sie wirklich in Gefahr waren, konnte er sich eine günstigere Ausgangsposition vorstellen, als mit seinem frisch operierten Bruder hier eingesperrt zu sein.

An diesem Nachmittag gab er Alex warme Milch mit Honig. Am liebsten hätte er ihn mit üppigen, nahrhaften Speisen vollgestopft, damit Alex wieder Fleisch auf die Rippen bekam, aber er wusste, dass das Zeit brauchte.

Danach schlief Alex ein, und als er einige Stunden später wieder aufwachte, wollte er reden. Und so erfuhr Shaman, wie es Bigger seit seiner Flucht von zu Hause ergangen war. »Bis nach New Orleans haben Mal Howard und ich auf einem Kahn gearbeitet. Wir bekamen Streit wegen eines Mädchens, und er ist alleine nach Tennessee weitergezogen, um sich dort zu melden.« Alex hielt inne und sah seinen Bruder an. »Weißt du, was mit Mal passiert ist?«

»Seine Leute haben nie etwas von ihm gehört.« Alex nickte, es schien ihn nicht zu überraschen. »Ich wäre damals beinahe wieder heimgekommen. Hätt’ ich’s bloß getan! Aber da unten wimmelte es nur so von Werbern der Konföderierten, und ich hab’ mich gemeldet. Hab’ mir gedacht, du kannst reiten und schießen, also bin ich zur Kavallerie gegangen.«

»Warst du oft im Einsatz?«

Alex nickte trübsinnig. »Zwei Jahre lang. Ich hatte vielleicht eine Wut auf mich, als sie mich in Kentucky gefangennahmen! Sie haben uns in ein Lager gesperrt, aus dem sogar ein Baby hätte ausbrechen können. Ich hab’ nur auf den richtigen Augenblick gewartet und bin dann getürmt. Drei Tage lang war ich frei und hab’ mich von dem ernährt, was ich in Gärten und so stehlen konnte. Dann kam ich zu diesem Farmhaus, wo ich um etwas zu essen gebettelt habe. Eine Frau hat mir ein Frühstück vorgesetzt, und ich hab’ ihr gedankt wie ein Gentleman und nichts Unanständiges versucht - was wahrscheinlich ein Fehler war. Eine halbe Stunde später hab’ ich dann schon die Hunde gehört, die sie hinter mir hergehetzt haben. Ich bin sofort in ein riesiges Maisfeld gerannt.

Hohe, grüne Stengel, so dicht beieinander, dass ich nicht zwischen den Reihen durchschlüpfen konnte. Ich musste die Stengel niedertrampeln, und das sah natürlich aus, als wäre da ein Bär drinnen. Fast den ganzen Vormittag war ich in dem Feld, immer auf der Flucht vor den Hunden. Ich hab’ schon gedacht, ich komm’ da gar nicht mehr raus. Und als ich dann endlich auf der anderen Seite ins Freie gelangt bin, standen diese zwei Yankees da, grinsten mich an und zielten mit ihren Gewehren auf mich. Diesmal schickten sie mich nach Maryland. Das war das schlimmste Lager. Schlechtes Essen oder gar keins, fauliges Wasser, und wenn du dem Zaun zu nahe kommst, schießen sie dich tot. Ich war wirklich froh, als sie mich von dort fortgeschafft haben.

Aber dann passierte eben dieses Zugunglück.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nur noch an ein lautes Knirschen erinnern und an Schmerzen im Fuß. Ich war eine Weile bewusstlos, und als ich aufwachte, hatten sie mir den Fuß schon abgeschnitten, und ich war in einem anderen Zug nach Elmira.«

»Wie hast du es denn nach der Amputation geschafft, einen Tunnel zu graben?«

Alex grinste. »Das war einfach. Ich hatte gehört, dass ein Trupp durch einen Tunnel raus wollte. Ich hab’ mich damals noch ziemlich stark gefühlt und hab’ einfach mitgegraben. Siebzig Meter hatten wir geschafft, direkt unter der Mauer durch. Mein Stumpf war noch nicht ganz verheilt, und beim Buddeln bekam ich immer wieder Dreck in die Wunde. Wahrscheinlich hatte ich deshalb solche Probleme mit meinem Bein. Ich konnte natürlich nicht mit ihnen raus, aber zehn Mann haben es geschafft, und ich hab’ nie gehört, dass sie wieder festgenommen wurden. Ich bin jeden Abend glücklich und zufrieden eingeschlafen, weil ich immer an die zehn freien Männer gedacht hab’.«

Shaman atmete tief durch. »Bigger«, sagte er dann, »Pa ist tot.«

Alex schwieg eine Weile, dann nickte er. »Ich glaube, mir war das schon klar, als ich dich mit seiner Tasche gesehen hab’. Hätte er noch gelebt, hätte er nicht dich geschickt, sondern wäre selber gekommen.«

Shaman lächelte. »Ja, das stimmt.« Er erzählte seinem Bruder, wie es Rob J. Cole bis zu seinem Tod ergangen war. Während seines Berichts begann Alex, leise zu weinen, und fasste nach Shamans Arm. Danach schwiegen sie beide, Hand in Hand. Auch nachdem Alex eingeschlafen war, saß Shaman noch lange da, ohne die Hand des Bruders loszulassen.

Es schneite bis zum späten Nachmittag. Nach Einbruch der Dunkelheit ging Shaman von einem Fenster zum anderen und spähte hinaus. Auf allen vier Seiten des Hauses glänzte das Mondlicht auf unberührtem Schnee, ohne eine Spur. Inzwischen hatte er sich auch eine Erklärung zurechtgelegt: Er vermutete, dass der dicke Soldat nach ihm gesucht hatte, weil jemand einen Arzt brauchte. Vielleicht war der Patient inzwischen gestorben, oder er hatte sich wieder erholt, oder vielleicht hatte der Mann auch einen anderen Arzt gefunden. Es klang einigermaßen einleuchtend, und es beruhigte ihn. Zum Abendessen gab er Alex eine Schüssel nahrhafter Suppe mit einem eingeweichten Kräcker dann. Sein Bruder schlief unruhig. Eigentlich hatte Shaman in dieser Nacht in dem Bett im anderen Zimmer schlafen wollen, doch er döste im Sessel neben Alex’ Bett ein. Sehr früh am Morgen - auf seiner Uhr, die neben dem Revolver auf dem Nachttisch lag, sah er, dass es zwei Uhr dreißig war-wurde er von Alex geweckt. Sein Bruder hatte sich halb aus dem Bett gestemmt und sah - die Augen weit aufgerissen - verstört umher. Unten schlägt jemand ein Fenster ein, formte er mit den Lippen. Shaman nickte. Er stand auf und nahm den Revolver vom Tisch. Die Waffe lag schwer in seiner linken Hand, ein unvertrauter Gegenstand. Die Augen auf Alex’ Gesicht gerichtet, wartete Shaman. Hatte Alex es sich nur eingebildet? Oder geträumt? Die Gästezimmertür war geschlossen. Hatte Alex vielleicht nur einen Eiszapfen zersplittern hören?