»Haben Sie in seine Taschen gesehen?«
»Nein, Sir.«
Der Major tat es und legte den Inhalt der Taschen des fetten Soldaten auf die Decke am Fußende des Bettes. Viel war es nicht: eine Dose Clock-Time-Schnupftabak, ein zusammengeknülltes, schmutziges Taschentuch, siebzehn Dollar und achtunddreißig Cent sowie ein Urlaubsschein der Armee, den Poole las und dann Shaman gab. »Sagt Ihnen der Name irgend etwas?«
Der Urlaubsschein war ausgestellt für: Sergeant-Major Henry Bowman Korff, Headqnarters, US Army Eastern Quartermaster Command, Elizabeth, New Jersey.
Shaman las den Schein und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Namen noch nie gelesen oder gehört«, konnte er aufrichtig sagen. Aber als er dann einige Minuten später die Treppe hinunterging, merkte er, dass dieser Name in ihm unerfreuliche Erinnerungen wachrief. Auf halbem Weg nach unten wusste er, warum. Nie wieder würde er nun darüber nachgrübeln müssen, wie es sein Vater bis zu seinem Tod getan hatte, was mit dem dritten Mann geschehen war, der an dem Morgen, als Makwa-ikwa vergewaltigt und getötet wurde, aus Holden’s Crossing geflohen war. Nun musste er nicht mehr nach einem Fettwanst namens Hank Cough suchen - Hank Korff hatte ihn gefunden.
Kurze Zeit später kam der Coroner und erklärte den Verstorbenen offiziell für tot. Er begrüßte Shaman sehr kühl.
Alle Männer zeigten offen oder versteckt Distanz, ja Feindschaft, und Shaman verstand auch, weshalb. Alex war ihr Kriegsgegner, er hatte gegen sie gekämpft und wahrscheinlich einige Nordstaatler getötet, und bis vor wenigen Tagen war er ihr Kriegsgefangener gewesen. Jetzt aber hatte Alex’ Bruder einen Soldaten des Nordens in Uniform getötet. Shaman war erleichtert, als sie den gewichtigen Toten auf eine Bahre luden und unter Mühen die Treppe hinunter- und aus dem Haus trugen. Nun begannen die Verhöre. Der Major saß in dem Gästezimmer, in dem die Schießerei stattgefunden hatte. Neben ihm hockte auf einem Küchenschemel einer der Sergeanten und schrieb mit. Shaman saß auf der Bettkante.
Major Poole fragte ihn nach seinen politischen und anderen Verbindungen, und Shaman erwiderte, er sei in seinem Leben nur zwei Organisationen beigetreten, der Society for the Abolition of Slavery während der College-Zeit und der Rock Island County Medical Society.
»Sind Sie ein Copperhead, Dr. Cole?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Und Sie haben auch nicht den kleinsten Funken Sympathie für den Süden?«
»Ich bin gegen die Sklaverei. Ich will, dass der Krieg zu Ende geht, ohne noch mehr Leid anzurichten, und ich unterstütze den Süden nicht.«
»Warum ist Sergeant-Major Korff in dieses Haus gekommen?«
»Ich habe keine Ahnung.« Shaman war entschlossen, den lange zurückliegenden Mord an einer Indianerfrau in Illinois und die Tatsache, dass drei Männer und ein politischer Geheimbund in die Vergewaltigung und den Tod dieser Frau verwickelt waren, nicht zu erwähnen. Das war alles zu weit entfernt, zu mysteriös. Er wusste, wenn er es zur Sprache brachte, würde er nur den Argwohn dieses unfreundlichen Armeeoffiziers herausfordern und sich und seinen Bruder noch mehr gefährden.
»Sie verlangen von uns zu akzeptieren, dass ein Sergeant-Major der United States Army bei einem versuchten Raubüberfall getötet wurde.«
»Nein, ich verlange nicht, dass Sie irgend etwas akzeptieren. Major Poole. Glauben Sie, dass ich diesen Mann eingeladen habe, in einem von mir gemieteten Haus ein Fenster einzuschlagen, das Haus unbefugt um zwei Uhr morgens zu betreten und im Krankenzimmer meines Bruders eine Waffe abzufeuern?«
»Warum hat er es dann getan?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Shaman, und der Major runzelte die Stirn.
Während Poole Shaman verhörte, befragte der Leutnant im Wohnzimmer Alex. Gleichzeitig durchsuchten die Gemeinen und die Deputies des Sheriffs den Stall und das Haus, sie öffneten Shamans Gepäck und leerten Schubladen und Schränke.
Von Zeit zu Zeit unterbrachen die beiden Offiziere die Verhöre, um sich zu besprechen.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Ihre Mutter eine Südstaatlerin ist?« fragte Major Poole Shaman nach einer solchen Pause. »Meine Mutter wurde in Virginia geboren, hat aber mehr als ihr halbes Leben in Illinois verbracht. Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil Sie mich nicht danach gefragt haben.«
»Das haben wir in Ihrer Arzttasche gefunden. Was ist das, Dr. Cole?« Poole breitete vier Zettel auf dem Bett aus.
»Auf jedem stehen Name und Adresse einer Person, eines Südstaatlers.«
»Es sind die Adressen von Angehörigen der Zeltkollegen meines Bruders im Gefangenenlager von Elmira. Diese Männer haben sich um meinen Bruder gekümmert und ihn gepflegt. Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich mich mit ihnen in Verbindung setzen, um herauszufinden, ob sie es geschafft haben. Und wenn sie es geschafft haben, werde ich ihnen danken.«
Die Verhöre zogen sich in die Länge. Oft wiederholte Poole Fragen, die er schon einmal gestellt hatte, und Shaman wiederholte dann seine Antworten.
Mittags gingen die Männer zum Essen zu Barnard und ließen nur die beiden Gemeinen und einen Sergeanten im Haus zurück. Shaman ging in die Küche, kochte Haferschleim und brachte Alex, der bedrohlich erschöpft aussah, eine Schüssel davon. Alex sagte, er könne nichts essen.
»Du musst essen, das ist deine Art zu kämpfen!« sagte Shaman energisch, worauf Alex nickte und das mehlige Zeug auszulöffeln begann.
Nach dem Mittagessen wurden die Plätze getauscht, der Major verhörte nun Alex und der Leutnant Shaman.
Gegen drei Uhr nachmittags verlangte Shaman zur Verärgerung der Offiziere eine Unterbrechung und wechselte
- vor Publikum - den Verband an Alex’ Stumpf. Shaman war sehr erstaunt, als Major Poole ihn bat, drei seiner Soldaten zu jener Stelle im Wald zu führen, wo er das amputierte Stück von Alex’ Bein verbrannt hatte. Er zeigte ihnen den Ort, und sie schaufelten den Schnee beiseite und wühlten in den Ascheresten, bis sie verkohlte Fragmente von Schien- und Wadenbein fanden, die sie in ein Taschentuch legten und mitnahmen. Am Spätnachmittag gingen die Männer. Das Haus war nun wieder angenehm leer, aber es herrschte auch eine Atmosphäre der Unsicherheit und des Verletztseins. Eine Decke hing vor dem zerbrochenen Fenster, die Böden waren schmutzig, und in der Luft hing der Körper- und Pfeifengeruch der Männer. Shaman erhitzte die Fleischsuppe. Zu seiner freudigen Überraschung hatte Alex plötzlich wirklich Hunger, und er gab ihm zur Suppe auch eine reichliche Portion Rindfleisch und Gemüse. Auch Shamans Appetit wurde dadurch angeregt, und nach der Suppe aßen sie Butterbrot mit Marmelade und Apfelmus, und Shaman brühte frischen Kaffee auf. Dann trug er Alex nach oben und legte ihn in Mrs. Clays Bett. Er versorgte seinen Bruder und saß lange bei ihm, doch schließlich ging er in das Gästezimmer, wo er erschöpft aufs Bett fiel und sich bemühte, die Blutflecken auf dem Boden zu vergessen. In dieser Nacht schlief er ein wenig.
Am nächsten Morgen kamen weder der Sheriff noch seine Leute, aber die Soldaten waren schon da, ehe Shaman das Frühstücksgeschirr aufgeräumt hatte. Zunächst sah es so aus, als würde dieser Tag genauso verlaufen wie der vorangegangene, doch dann klopfte im Verlauf des Vormittags ein Mann an die Tür, der sich als George Hamilton Crockett, stellvertretender Kommissar für Indianerangelegenheiten aus Albany, vorstellte. Er unterhielt sich lange mit Major Poole und überreichte ihm einen Stapel Papiere, in denen sie im Verlauf des Gesprächs immer wieder blätterten.
Dann packten die Soldaten ihre Sachen zusammen und zogen ihre Mäntel an. Angeführt von dem mürrischen Major Poole, verließen sie das Haus.
Mr. Crockett blieb noch eine Weile und unterhielt sich mit den Cole-Brüdern. Er erzählte ihnen, dass sein Büro mit Telegrammen aus Washington förmlich bombardiert worden sei. »Der Vorfall ist etwas unglücklich. Die Army hat schwer daran zu schlucken, dass einer der Ihren im Haus eines Konföderierten getötet worden ist.