Kurze Zeit später holte Alex seinen falschen Fuß aus dem Schrank im Gang und schnallte ihn sich ohne fremde Hilfe an. Shaman hatte es sich im Arbeitszimmer bequem gemacht und las in medizinischen Fachzeitschriften.
Immer und immer wieder stapfte Alex an der geöffneten Tür vorbei, während er mit vorsichtigen Schritten im Gang auf und ab ging. Shaman merkte an der Stärke der Erschütterungen, dass sein Bruder das Bein mit der Prothese viel zu hoch hob, und er wusste, welche Schmerzen Alex jeder Schritt bereiten musste. Als Shaman in ihr gemeinsames Schlafzimmer kam, war Alex bereits eingeschlafen. Die Prothese steckte noch in Strumpf und Schuh und stand neben Alex’ rechtem Schuh, als gehöre sie dort hin.
Am nächsten Vormittag trug Alex die Prothese in der Kirche als Hochzeitsgeschenk für Sarah. Die Brüder waren zwar keine Kirchgänger, aber ihre Mutter hatte sie gebeten, zur Feier ihrer Verehelichung an diesem Sonntag am Gottesdienst teilzunehmen, und nun konnte sie den Blick nicht von ihrem Erstgeborenen lösen, als der den Mittelgang entlang zur vordersten Bank ging, die für die Familie des Pfarrers reserviert war. Alex stützte sich auf einen Stock aus Eschenholz, den Rob J. in seiner Praxis aufbewahrt hatte, um ihn an Patienten auszuleihen.
Manchmal zog er den falschen Fuß etwas nach, manchmal hob er ihn zu hoch. Aber er strauchelte nicht und ging mit festem Schritt auf seine Mutter zu.
Sie saß zwischen ihren Söhnen und erlebte, wie ihr Gatte mit der Gemeinde andächtig betete. Die Predigt begann er damit, allen zu danken, die mit ihm seine Hochzeit gefeiert hatten. Er sagte, dass Gott ihn nach Holden’s Crossing geführt habe und ihn nun wieder wegführe, und er dankte allen, die seine Amtszeit hier so bedeutungsvoll für ihn gemacht hatten.
Er war eben dabei, diejenigen beim Namen zu nennen, die ihm geholfen hatten, das Werk des Herrn zu tun, als plötzlich Lärm durch die halbgeöffneten Kirchenfenster drang. Zuerst war es nur ein schwaches Jubeln, das aber sehr schnell anschwoll. Eine Frau kreischte, und heisere Schreie waren zu hören. Auf der Hauptstraße feuerte jemand einen Schuss ab, und eine ganze Salve folgte.
Die Kirchentür sprang auf, und Paul Williams stürzte herein. Er lief zum Pfarrer und flüsterte ihm ins Ohr.
»Brüder und Schwestern«, sagte Sydney dann, und offensichtlich hatte er Mühe zu sprechen. »In Rock Island ist ein Telegramm eingetroffen ... Robert E. Lee hat sich gestern mit seiner Armee General Grant ergeben.«
Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Einige standen auf. Shaman sah, dass sein Bruder sich mit geschlossenen Augen in der Bank zurück lehnte.
»Was bedeutet das, Shaman ?« fragte seine Mutter.
»Das bedeutet, dass es endlich überstanden und vorbei ist«, antwortete Shaman.
Shaman kam es so vor, als wären die Leute, wohin er in den nächsten Tagen auch kam, vor Frieden und Hoffnung trunken. Sogar die Schwerkranken lächelten und sprachen davon, dass nun bessere Tage angebrochen seien, und überall herrschten Freude und Lachen - doch auch Trauer, denn jeder kannte einen, der dem Krieg zum Opfer gefallen war.
Als Shaman am Donnerstag nach seinen Hausbesuchen zurückkehrte, wartete Alex hoffnungsvoll und zugleich ängstlich auf ihn, denn Alden zeigte verwirrende Symptome. Seine Augen waren offen, und er war bei Bewusstsein. Aber die Rasselgeräusche in seiner Lunge, sagte Alex, seien stärker geworden. »Außerdem fühlt er sich heiß an.«
»Hast du Hunger, Alden?« fragte ihn Alex. Alden sah ihn an, sagte aber nichts. Shaman und Alex stützten ihn auf und fütterten ihn mit Suppe, aber es war schwierig, weil er immer stärker zitterte. Seit Tagen gaben sie ihm nur Suppe oder Haferschleim, da Shaman Angst hatte, er könne feste Nahrung in die Luftröhre bekommen.
Shaman goss Terpentin in einen Kübel mit heißem Wasser, ließ Alden den Kopf über den Dampf halten und breitete ein Handtuch darüber. Lange atmete Alden die Dämpfe ein, bekam aber schließlich einen so heftigen Hustenanfall, dass Shaman den Kübel entfernte und diese Behandlung nicht noch einmal versuchte. In Wirklichkeit hatte er kein Mittel mehr, das Alden noch helfen konnte.
Die bittersüße Freude dieser Woche schlug am Freitagnachmittag in Entsetzen um. Als Shaman die Hauptstraße entlangritt, sah er sofort, dass die Nachricht von einer entsetzlichen Katastrophe die Runde machen musste. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen und redeten. Er sah Anna Wiley, die weinend auf der Veranda ihrer Pension an einem Pfosten lehnte. Simeon Cowan, der Mann von Dorothy Burnham Cowan, saß auf seinem Buckboard, die Augen halb geschlossen, die Lippen zwischen Zeigefinger und rissigem Daumen eingeklemmt.
»Was ist denn los?« fragte Shaman Simeon und war überzeugt davon, dass man den Frieden widerrufen hatte.
»Abraham Lincoln ist tot. Er wurde gestern Abend in einem Theater in Washington von dem verdammten Schauspieler Booth erschossen.« Shaman weigerte sich, einer solchen Nachricht Glauben zu schenken, doch sie wurde ihm von allen Seiten bestätigt, als er abstieg und die Leute fragte. Obwohl niemand etwas Genaues wusste, war doch offensichtlich, dass die Geschichte stimmte, und er ritt heim, um Alex die Neuigkeit zu berichten.
»Der Vizepräsident wird an seine Stelle treten«, sagte Alex. »Andrew Johnson ist bestimmt schon vereidigt.«
Dann saßen sie lange schweigend im Wohnzimmer. »Unser armes Land!« sagte Shaman schließlich, als wäre Amerika ein Patient, der lange und heftig gegen die entsetzlichste aller Krankheiten angekämpft hatte und jetzt von einer Klippe gestürzt war.
Eine graue Zeit zog herauf. Wenn Shaman Hausbesuche machte, sah er nur traurige, ernste Gesichter, und abends läutete immer die Kirchenglocke. Eines Tages half Shaman Alex auf Trude, damit er ausreiten konnte; es war das erstemal seit seiner Gefangennahme, dass Alex auf einem Pferd saß. Bei seiner abendlichen Rückkehr erzählte er Shaman, dass der Klang der Glocke weit über die Prärie hinausgetragen werde, ein trostloser, verlorener Klang.
Wieder einmal wachte Shaman bei Alden, und als er irgendwann nach Mitternacht den Kopf von seiner Lektüre hob, sah er, dass der alte Mann ihn anblickte. »Willst du etwas, Alden?« Der Knecht schüttelte fast unmerklich den Kopf.
Shaman beugte sich über ihn. »Alden. Erinnerst du dich noch an den Abend, als vor dem Stall auf meinen Vater geschossen wurde? Und du im Wald nachgesehen und niemanden gefunden hast?« Alden zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Du hast auf meinen Vater geschossen.«
Alden leckte sich die Lippen. »...Wollt’ ihn nicht treffen... ihm nur Angst einjagen, damit er Ruhe gibt.«
»Willst du Wasser?«
Alden antwortete nicht, doch etwas später fragte er: »Wie hast du das herausgefunden?«
»Während du krank warst, hast du etwas gesagt, das mich eine Menge Dinge hat verstehen lassen. Zum Beispiel, weshalb du mich gedrängt hast, nach Chicago zu fahren und David Goodnow zu suchen. Du hast gewusst, dass er hoffnungslos debil und stumm ist, dass ich von ihm nichts erfahren würde.«
»... Was weißt du sonst noch?«
»Ich weiß, dass du in dieser Sache drinsteckst. Und zwar über beide Ohren.«
Alden nickte, auch das fast unmerklich. »Ich hab’ sie nicht umgebracht. Ich...« Ein langer, entsetzlicher Hustenanfall schüttelte Alden, und Shaman hielt ihm eine Schüssel hin, damit er ausspucken konnte - grauen, rosagefleckten Schleim. Danach war er bleich und erschöpft, und er schloss die Augen.
»Alden. Warum hast du Korff verraten, wohin ich fahre?«
»Du wolltest die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Hast in Chicago für ziemlichen Wirbel gesorgt. Korff hat jemand zu mir geschickt, nachdem du weg warst. Ich hab’ ihm gesagt, wo du hinwillst. Ich hab’ mir gedacht, er will nur mit dir reden, dir angst machen, so wie er mir angst gemacht hat.«