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An diesem Nachmittag fuhr Shaman mit Boss vor dem Buckboard zu seinen Hausbesuchen, da kam ihm die Mietkutsche aus Rock Island entgegen. Neben dem Kutscher saß ein Mann, und Shaman winkte beiden zu, als sie vorbeifuhren. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihm bewusst wurde, wer der Fahrgast gewesen war, und er wendete das Gefährt in einem weiten Bogen und eilte ihnen nach. Sobald er auf gleicher Höhe mit der Mietkutsche war, winkte er dem Kutscher, er solle anhalten, und sprang dann mit einem Satz vom Buckboard.

»Jay!« rief er.

Auch Jason Geiger kletterte von dem Wagen. Er hatte abgenommen; kein Wunder, dass Shaman ihn nicht gleich erkannt hatte. »Shaman?« sagte er. »Mein Gott, du bist es wirklich.« Er hatte keinen Koffer, nur einen Segeltuchsack mit einer Zugschnur, den Shaman nun in seinen Buckboard warf.

Jay lehnte sich im Sitz zurück und schien die Umgebung förmlich einzuatmen. »Wie hab’ ich das alles vermisst!« Er warf einen Blick auf die Behandlungstasche und nickte. »Lillian hat mir geschrieben, dass du jetzt Arzt bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich war, als ich das las. Deinen Vater muss...« Er fuhr nicht fort.

Dann sagte er: »Dein Vater stand mir näher als meine Brüder.«

»Er hat sich immer glücklich geschätzt, dich zum Freund zu haben.«

Geiger nickte. »Erwarten sie dich?«

»Nein. Ich habe es selber erst vor wenigen Tagen erfahren. Unionstruppen mit eigenem medizinischen Personal haben mein Lazarett übernommen und zu uns gesagt, wir könnten nach Hause gehen. Ich habe mir sofort Zivilkleider angezogen und mich in einen Zug gesetzt. In Washington hieß es, Lincolns Leiche sei in der Rotunde des Kapitols aufgebahrt, und ich bin hingegangen. Eine solche Menschenmenge hast du noch nie gesehen. Ich bin den ganzen Tag angestanden.«

»Hast du seine Leiche gesehen?«

»Einen kurzen Augenblick lang. Er wirkte sehr würdig. Eigentlich wollte man stehenbleiben und etwas zu ihm sagen, aber die Menge schob einen weiter. Mir fiel ein, dass diese Menge mich in Stücke reißen würde, wenn sie die graue Uniform in meinem Sack sehen könnte.« Er seufzte. »Lincoln wäre ein Versöhner gewesen. Jetzt fürchte ich, dass die, die jetzt an der Macht sind, seine Ermordung als Vorwand benutzen werden, um den Süden in den Staub zu stoßen.« Er brach ab, denn Shaman war in die Zufahrt eingebogen, die von der Straße zum Haus der Geigers führte. Shaman ließ Boss bis zur Seitentür fahren, die die Familie immer benutzte. »Kommst du mit rein?« fragte Jay. Shaman lächelte und schüttelte den Kopf. Er wartete, bis Jay den Segeltuchsack aus dem Wagen genommen hatte und steif die Treppe hinaufging. Es war sein Haus, und er betrat es, ohne anzuklopfen, während Shaman Boss leise zuschnalzte und losfuhr.

Tags darauf wartete Shaman, bis der letzte Patient sein Behandlungszimmer verlassen hatte, dann ging er auf dem Langen Weg zu den Geigers. Als er klopfte, öffnete Jason die Tür, und Shaman sah sofort an seinem Gesicht, dass Rachel mit ihm gesprochen hatte. »Komm herein!«

»Vielen Dank, Jay.«

Es half nicht viel, dass die beiden Kinder Shamans Stimme bereits erkannt hatten und aus der Küche gelaufen kamen, um sich an seine Beine zu klammern. Lillian stürzte hinter ihnen her und zerrte sie mit sich, während sie Shaman zur Begrüßung zunickte. Obwohl Joshua und Hattie protestierten, brachte sie die beiden in die Küche zurück.

Jay führte Shaman ins Wohnzimmer und deutete auf einen der Rosshaarsessel, auf den Shaman sich gehorsam setzte. »Meine Enkel haben Angst vor mir.«

»Sie kennen dich noch nicht richtig. Lillian und Rachel haben ihnen die ganze Zeit von dir erzählt. Opa hier und Zadik dort. Sobald sie dich als diesen guten Opa erkannt haben, wird alles gut.« Shaman fiel ein, dass Jay Geiger es vielleicht nicht schätzte, unter den gegebenen Umständen über seine Enkel belehrt zu werden, und er versuchte deshalb, das Thema zu wechseln. »Wo ist Rachel?« »Sie ist spazierengegangen. Sie... hat sich aufgeregt.«

Shaman nickte. »Sie hat dir von mir erzählt. Weißt du, ich habe sie mein ganzes Leben lang geliebt. Gott sei Dank bin ich kein Junge mehr... Jay, ich weiß, was du befürchtest.«

»Nein, Shaman. Bei allem Respekt, das wirst du nie wissen. Diese beiden Kinder haben das Blut von Hohepriestern in ihren Adern. Sie müssen als Juden erzogen werden.«

»Das werden sie auch. Wir haben das ausführlich besprochen. Rachel wird ihren Glauben nicht aufgeben. Joshua und Hattie können von dir erzogen werden, von dem Mann, der auch ihre Mutter erzogen hat. Ich möchte gerne mit ihnen Hebräisch lernen; ich hatte es eine Zeitlang im College belegt.«

»Wirst du konvertieren?«

»Nein... Eigentlich denke ich daran, ein Quäker zu werden.« Geiger schwieg. »Wenn deine Familie in einer Stadt leben würde, in der es nur deine Glaubensgenossen gäbe, könntest du Verbindungen erwarten, wie du sie dir für deine Kinder wünschst. Aber du hast die Deinen in die Welt hinausgeführt.«

»Ja, dafür übernehme ich die Verantwortung. Und jetzt muss ich sie zurückführen.«

Shaman schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht mitkommen. Sie können es nicht.«

Jays Gesichtsausdruck blieb unverändert.

»Rachel und ich werden heiraten. Und wenn du sie tödlich verletzt, indem du die Spiegel verhängst und die Totenklage anstimmst, werde ich sie bitten, die Kinder zu nehmen und mit mir zu kommen, weit, weit weg von hier.«

Einen Augenblick lang fürchtete er einen berüchtigten Geigerschen Temperamentsausbruch, doch Jay nickte.

»Heute morgen hat sie mir gesagt, sie würde gehen.«

»Und gestern hast du mir gesagt, dass mein Vater dir im Herzen näher stand als deine Brüder. Ich weiß, dass du seine Familie liebst. Können wir uns denn nicht so lieben, wie wir sind?«

Jason war blass geworden. »Sieht so aus, als müssten wir es versuchen«, sagte er nachdenklich. Dann stand er auf und streckte Shaman die Hand entgegen.

Shaman beachtete die Hand nicht, sondern umschlang Jason mit beiden Armen. Einen Augenblick später spürte er seine Hände, die ihm tröstend über den Rücken strichen.

In der dritten Aprilwoche kehrte der Winter zurück nach Illinois. Die Temperaturen fielen, und es schneite.

Shaman sorgte sich wegen der Knospen auf den Pfirsichbäumen. Auf der Baustelle wurde die Arbeit unterbrochen, aber er ging mit Ericsson durch das Farmhaus und zeigte ihm, wo er Regale und Instrumentenschränke einbauen solle. Beide waren der Meinung, dass die Räume selbst kaum verändert werden mussten, um aus dem Haus eine Ambulanz zu machen. Als es aufhörte zu schneien, nutzte Doug Penfield die Kälte, um zu schlachten, wie er es Sarah versprochen hatte. Shaman ging an dem Schlachthaus hinter dem Stall vorbei und sah drei Schweine an ihren zusammengebundenen Hinterläufen von einer hohen Stange hängen. Drei waren viel zuviel, wurde ihm plötzlich bewusst, denn Rachel würde in ihrem Haushalt weder Schinken noch geräucherten Speck verwenden, und er musste über dieses Aufscheinen der interessanten Zusammenhänge, die sein Leben nun allmählich prägten, lächeln. Die Schweine waren bereits ausgeblutet, ausgenommen, in kochendes Wasser getaucht und von Borsten befreit. Sie waren von rosig-weißer Farbe, und er wollte schon weitergehen, als ihm die kleinen, einander gleichen Öffnungen in ihren dicken Halsschlagadern, aus denen sie geblutet hatten, ins Auge sprangen: Dreieckige Wunden, wie die Löcher, die Skistöcke im Schnee hinterließen.

Ohne sie nachmessen zu müssen, wusste Shaman, dass sie die richtige Größe hatten. Er stand da und starrte sie wie gebannt an, als Doug mit der Knochensäge dazukam.

»Die Löcher da. Womit haben Sie die gemacht?«

»Mit Aldens Stechmesser.« Doug lächelte ihn an. »Das ist eine wirklich komische Geschichte. Ich hab’ Alden immer wieder gebeten, mir so eins zu machen, schon seit dem erstenmal, als ich hier geschlachtet habe. Immer und immer wieder hab’ ich ihn darum gebeten. Und er hat immer gesagt, er macht mir eins. Er hat nämlich gemeint, dass es besser ist, Schweine abzustechen, als ihnen die Kehle durchzuschneiden. Er hat erzählt, dass er früher selber so ein Stechmesser gehabt hat, das dann aber verlorengegangen sei. Aber er hat mir nie eins gemacht. Dann haben wir seine Hütte abgerissen, und da war es: unter einem der Bodenbretter. Hat’s wahrscheinlich nur kurz weggelegt, als der Boden repariert wurde, und hat’s dann vergessen und das Brett einfach darübergenagelt. Hab’s nicht mal groß nachschleifen müssen.« Kurz darauf hielt Shaman das Stechmesser in der Hand. Es war das Instrument, das Barney McGowan vergeblich versucht hatte sich vorzustellen, als Shaman ihm im Pathologiesaal der Poliklinik von Cincinnati Makwas Wunden beschrieb und ihn fragte, von welcher Waffe sie stammen könnten. Es war etwa fünfundvierzig Zentimeter lang. Der Griff war rund und glatt und lag gut in der Hand. Wie Shamans Vater schon bei der Autopsie vermutet hatte, liefen die letzten achtzehn Zentimeter spitz zu, so dass die Wunde immer größer wurde, je tiefer das Stechmesser ins Gewebe drang. Seine drei Kanten funkelten gefährlich, und es war offensichtlich, dass sich der Stahl sehr gut schärfen ließ. Alden hatte immer guten Stahl verwendet. Shaman sah den Arm sich heben und senken. Heben und senken. Elfmal.