Schlafwandler war kein Mann, der viele Worte machte. »Sie sagt, dass du ein Arzt bist.«
»Ja.«
»Gut. Kommst du bitte mit mir?«
Shaman nickte. Er und Rachel ließen Keyser bei Schnappende Schildkröte, holten nur kurz die Arzttasche und folgten dann dem Medizinmann.
Während sie durch den Ort gingen, suchte Shaman nach Eindrücken, die seiner Erinnerung entsprachen. Er sah keine Tipis, doch hinter den Hütten standen einige hedonoso-te. Die Leute trugen vorwiegend schäbige Kleider der Weißen, nur die Mokassins waren so, wie er sie in Erinnerung hatte, doch viele der Indianer trugen Arbeitsschuhe oder Armeestiefel.
Schlafwandler brachte sie zu einer Hütte am anderen Ende der Ansiedlung. In ihrem Inneren lag eine dünne junge Frau auf dem Boden und krümmte sich, die Hände auf ihrem dicken Bauch. Ihre Augen waren glasig, und sie sah aus, als sei sie nicht bei Verstand. Sie reagierte nicht, als Shaman sie etwas fragte. Ihr Puls ging schnell und unregelmäßig. Er befürchtete das Schlimmste, doch als er ihre Hände in die seinen nahm, spürte er mehr Lebenskraft, als er erwartet hatte.
Sie sei Watwaweiska, Kletterndes Eichhörnchen, sagte Schlafwandler, die Frau seines Bruders. Es sei ihre erste Geburt, und die Wehen hätten bereits gestern morgen eingesetzt. Zuvor habe sie sich schon eine weiche, trockene Stelle im Wald ausgesucht, und dorthin sei sie gegangen. Immer und immer wieder seien die Schmerzen gekommen, und sie habe sich hingekauert, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte. Als dann das Wasser gekommen sei, seien ihre Beine und ihr Kleid nass geworden, aber sonst sei nichts passiert. Die Schmerzen seien nicht vergangen, und das Kind sei nicht gekommen. Bei Einbruch der Nacht hätten andere Frauen sie gesucht und hierher gebracht. Schlafwandler hatte ihr nicht helfen können.
Shaman zog Kletterndes Eichhörnchen das schweißnasse Kleid aus und betrachtete ihren Körper. Sie war sehr jung. Ihre Brüste waren klein, trotz der Milch, und ihr Becken war schmal. Die Vulva klaffte, doch von einem kleinen Kopf war nichts zu sehen. Shaman tastete vorsichtig den Bauch der jungen Frau ab, nahm dann sein Stethoskop und gab Rachel die Ohrstöpsel. Als er die Muschel an verschiedenen Stellen des Bauches anlegte, bestätigten die Geräusche, die Rachel ihm beschrieb, was er bereits mit Händen und Augen festgestellt hatte.
»Das Kind liegt verkehrt.«
Er ging nach draußen und bat um sauberes Wasser, woraufhin ihn Schlafwandler zu einem Bach im Wald führte.
Der Medizinmann sah neugierig zu, wie Shaman sich Hände und Arme einseifte und kräftig schrubbte. »Das gehört zu meiner Medizin«, sagte Shaman, und Schlafwandler nahm die Seife und machte es ihm nach. Wieder in der Hütte, nahm Shaman seine Dose mit sauberem Schmalz aus der Tasche und schmierte sich damit die Hände ein. Er führte zuerst einen Finger in den Geburtskanal ein, dann einen zweiten, so als würde er versuchen, in eine geschlossene Faust einzudringen. Er arbeitete sich langsam vorwärts. Zuerst spürte er gar nichts, doch dann zuckte die Frau während einer Wehe zusammen, und die enge Verkrampfung öffnete sich ein wenig. Er ertastete einen kleinen Fuß und die Nabelschnur, die um den Fuß gewickelt war. Die Nabelschnur war robust, aber straff gespannt, und er versuchte nicht, den Fuß aus ihr zu lösen, solange der Wehenanfall andauerte. Erst anschließend streifte er vorsichtig, nur mit seinen beiden Fingern, die Nabelschnur vom Fuß und zog den Fuß heran.
Der andere Fuß war weiter oben und stemmte sich gegen die Wand des Geburtskanals. Shaman bekam ihn erst während der nächsten Wehe zu fassen. Er zog auch ihn heran, bis zwei winzige rote Füße aus der Mutter herausragten. Aus den Füßen wurden langsam Beine, und bald konnten sie sehen, dass es ein Junge war. Der Bauch mit der Nabelschnur kam zum Vorschein. Doch dann kam es zum Stillstand, denn Schulter und Kopf klemmten im Geburtskanal wie ein Korken in einem Flaschenhals.
Shaman konnte das Kind nicht weiter herausziehen, und er konnte auch nicht tiefer hineinfassen, um die Nase des Kindes vom Fleisch der Mutter, in das sie gedrückt wurde, zu befreien. Mit der Hand im Geburtskanal kniete er da und suchte verzweifelt nach einer Lösung, doch er fürchtete, dass das Baby ersticken werde. Schlafwandler hatte in einer Ecke der Hütte sein mee-skome, und aus diesem zog er nun eine gut einen Meter lange Rebe. Das eine Ende dieser Rebe hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem flachen, hässlichen Kopf einer Viper, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch aufgesetzte schwarze, runde Augen und dünne, spitze Fangzähne.
Schlafwandler ließ die »Schlange« sich über den Bauch der jungen Frau winden, bis der Kopf knapp vor ihrem Gesicht hin und her pendelte. Der Medizinmann sang etwas in seiner Sprache, aber Shaman versuchte erst gar nicht, von seinen Lippen abzulesen. Er beobachtete statt dessen Kletterndes Eichhörnchen.
Er sah, dass die Frau den Blick auf die Schlange richtete und ihre Augen sich weiteten. Der Medizinmann ließ das Reben-Tier nun an ihrem Körper hinunterkriechen, bis der Kopf direkt über der Stelle war, unter der das Baby feststeckte. Shaman spürte ein Beben im Geburtskanal.
Er sah, dass Rachel den Mund öffnete, um zu protestieren, doch er brachte sie mit einem Blick zum Verstummen.
Die Fangzähne berührten den Bauch von Kletterndes Eichhörnchen. Plötzlich fühlte Shaman, wie alles sich weitete. Die Frau drückte heftig, und das Kind glitt weiter, so dass Shaman keine Mühe mehr hatte, es herauszuziehen. Lippen und Wangen des kleinen Jungen waren blau, doch sie röteten sich sofort. Mit zitterndem Finger wischte Shaman ihm den Schleim vom Mund. Das winzige Gesicht verzog sich entrüstet, und der Mund öffnete sich. Shaman spürte, dass der kleine Bauch eingezogen wurde, weil der Junge Luft holte, und er wusste, dass die anderen gleich darauf einen dünnen, hohen Schrei hörten.
Mit dem Medizinmann ging Shaman noch einmal zum Bach, um sich zu waschen. Schlafwandler sah zufrieden aus. Shaman war sehr nachdenklich. Vor dem Verlassen der Hütte hatte er sich die Rebe genau angesehen, um nachzuprüfen, ob es sich wirklich nur um eine Rebe handelte.
»Hat die Frau geglaubt, dass die Schlange ihr Baby verschlingt, und es deshalb geboren, um es zu retten?«
»Mein Lied hat ihr gesagt, dass die Schlange ein böser Manitu ist. Ein guter Manitu hat ihr geholfen.«
Shaman erkannte, dass die Wissenschaft in der Heilkunst nur bis zu einem gewissen Punkt von Nutzen ist.
Danach wird sie unterstützt vom Glauben, von dem Vertrauen auf etwas anderes. Dies war ein Vorteil, den der Medizinmann gegenüber dem Arzt hatte, denn Schlafwandler war Priester und Arzt. »Bist du ein Schamane?«
»Nein.« Schlafwandler sah ihn an. »Weißt du, was die Zelte der Weisheit sind?«
»Makwa hat uns von den Sieben Zelten erzählt.«
»Ja, sieben. Bei einigen Dingen bin ich im vierten Zelt, aber bei zu vielen bin ich noch im ersten.«
»Wirst du irgendwann Schamane werden?«
»Wer soll mich denn unterrichten? Weiße Wolke ist tot. Makwa-ikwa ist tot. Die Stämme sind zerstreut, die Mide’wiwin gibt es nicht mehr. Als ich mich in jungen Jahren dazu entschloss, ein Bewahrer der Geister zu werden, hörte ich von einem alten Sauk in Missouri, der fast ein Schamane war. Ich ging zu ihm und blieb zwei Jahre bei ihm. Aber dann ist er viel zu früh an den Pocken gestorben. Jetzt suche ich alte Leute, von denen ich etwas lernen könnte, aber es gibt nicht mehr viele, und die meisten wissen nichts. Unsere Kinder lernen Reservats-Englisch, und die Sieben Zelte der Weisheit sind verschwunden.« Shaman war plötzlich klar, was der Indianer meinte: Es gab für ihn keine Medical Schools mehr, denen er seine Bewerbungsschreiben schicken konnte. Die Sauks und die Mesquakies waren ein Überbleibsel, dem man die Religion, die Medizin und die Vergangenheit geraubt hatte.