Er hatte kurz die Schreckensvision von einer grünhäutigen Horde, die über die weiße Rasse hinwegfegt und nur wenige verstörte Überlebende zurücklässt, Überlebende, die höchstens noch eine unbestimmte Ahnung haben von einer früheren Zivilisation, von Hippokrates, Galen und Avicenna, Jahwe, Apollo und Jesus.
Offensichtlich hatte sich die Nachricht von der Geburt des Kindes in Windeseile im ganzen Dorf verbreitet.
Wenn die Indianer auch keine Menschen waren, die ihre Gefühle offen zeigten, so spürte Shaman doch ihre Dankbarkeit, als er nun durch die Siedlung ging. Charles Keyser kam zu ihm und erzählte, dass die Geburt, bei der im Vorjahr seine Frau gestorben war, dem Fall dieses Mädchens sehr ähnlich gewesen sei. »Der Doktor ist nicht rechtzeitig gekommen. Die einzige andere Frau, die dabei war, war meine Mutter, und die wusste auch nicht mehr als ich.«
»Sie dürfen sich deswegen keine Vorwürfe machen. Manchmal können wir eben ein Menschenleben nicht retten.
Ist das Kind auch gestorben?«
Keyser nickte.
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Zwei Mädchen und einen Jungen.« Shaman vermutete, dass Keyser unter anderem auch deshalb nach Tama gekommen war, weil er eine neue Frau suchte. Die Indianer schienen ihn zu kennen und zu mögen, einige begrüßten ihn sogar und nannten ihn Charlie Farmer.
»Warum nennen sie Sie so? Die Leute hier sind doch auch Farmer.« Keyser lachte. »Nicht so wie ich. Mein Daddy hat mir fünfzig Morgen Land hinterlassen mit der schwärzesten Iowa-Erde, die Sie je gesehen haben. Ich bestelle zwanzig Morgen davon, vorwiegend mit Winterweizen. Als ich das erstemal hierherkam, versuchte ich, diesen Leuten zu zeigen, wie man den Boden bestellt. Hab’ eine ganze Weile gebraucht, bis ich begriff, dass sie es nicht so machen wollen wie die Weißen. Die Männer, die ihnen das Land hier verkauft haben, dürften der Meinung gewesen sein, sie hätten die Indianer übers Ohr gehauen, weil es ein schlechter Boden ist. Aber die Leute in Tama decken ihre kleinen Gartenstücke mit Buschwerk, Unkraut und Abfall zu und lassen das Ganze verrotten, manchmal einige Jahre lang. Dann erst bestellen sie den Grund, aber mit Grabstöcken, nicht mit dem Pflug. Die Gärten liefern auf diese Weise genügend Nahrung. Zudem ist das Land hier voller Niederwild, und der Iowa gehört zu den fischreichsten Flüssen.«
»Dann leben die Indianer hier wirklich wie in alten Zeiten, so wie sie es wollten«, sagte Shaman.
Keyser nickte. »Schlafwandler meint, er habe sie gebeten, noch ein paar andere Leute zu behandeln. Es würde mich freuen, Ihnen helfen zu können, Dr. Cole.«
Shaman hatte bereits Rachel und Schlafwandler als Hilfskräfte. Doch dann fiel ihm ein, dass Keyser zwar aussah wie die Bewohner von Tama, sich hier aber offensichtlich nicht ganz zu Hause fühlte und deshalb wohl die Gesellschaft anderer Außenseiter brauchte. Also erwiderte er dem Farmer, er sei dankbar für seine Hilfe.
Es war ein seltsames Viergespann- das da von Hütte zu Hütte zog, doch schon bald wurde offensichtlich, dass sie einander gut ergänzten: Der Medizinmann verschaffte ihnen überall Zutritt und sang seine Gebete, Rachel hatte eine Tüte Süßigkeiten bei sich, mit denen sie das Vertrauen der Kinder gewann, und Charlie Keysers große Hände hatten die Kraft, aber auch das Feingefühl, die nötig waren, um jemanden festzuhalten, wenn es erforderlich war.
Shaman zog einige Zähne und wurde dafür mit dem Anblick von Patienten belohnt, die zwar Blutfäden spuckten, dabei aber lachten, weil die Ursache andauernder Schmerzen plötzlich verschwunden war.
Er stach Eiterbeulen auf, entfernte eine schwarz verfärbte, infizierte Zehe und beschäftigte Rachel damit, den Brustkorb hustender Indianer abzuhorchen. Einigen konnte er mit Sirup helfen, doch manche litten an Schwindsucht, und er war gezwungen, Schlafwandler zu sagen, dass er für sie nichts mehr tun könne. Außerdem sahen sie ein halbes Dutzend Männer und einige Frauen, die vom Alkohol betäubt waren, und Schlafwandler vertraute ihnen an, dass auch andere sich betranken, sobald sie sich Whiskey beschaffen konnten. Shaman wusste, dass die Krankheiten des weißen Mannes viel mehr Indianer getötet hatten als dessen Kugeln. Vor allem die Pocken hatten unter den Stämmen, die in den Wäldern und in der Prärie lebten, böse gewütet. Er hatte deshalb ein kleines hölzernes Kästchen mitgebracht, das halb mit Kuhpockenschorf gefüllt war.
Schlafwandler war sehr interessiert, als Shaman ihm berichtete, er habe eine Medizin, die die Pocken verhüte.
Doch Shaman gab sich auch große Mühe, ihm genau zu erklären, wie die Behandlung aussah und welche Folgen sie hatte: »Ich werden ihnen den Arm anritzen und ein winziges Stück Kuhpockenschorf in die Wunde einführen. Eine rote, juckende Blase etwa von der Größe einer kleinen Erbse wird sich entwickeln. Daraus wird eine grau verfärbte, nabelförmige Entzündung, und die Umgebung färbt sich großflächig rot und fühlt sich hart und heiß an. Nach der Impfung leiden die meisten etwa drei Tage lang an Kuhpocken, einer viel schwächeren und gutartigeren Krankheit als die eigentlichen Pocken, die aber immun macht gegen die tödliche Seuche. Diese Erkrankten bekommen höchstwahrscheinlich Kopfschmerzen und Fieber. Bei allen wird die Entzündung größer und dunkler und trocknet dabei aus, bis etwa am einundzwanzigsten Tag der Wundschorf abfällt und eine rosige Narbe hinterlässt.« Shaman trug Schlafwandler auf, dies alles seinen Leuten zu erklären and herauszufinden, wer sich impfen lassen wolle. Der Medizinmann blieb nicht lange aus. Vor den Pocken wollte jeder geschützt sein, und so machten sie sich daran, die ganze Gemeinde zu impfen. Schlafwandlers Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass sich die Leute in einer Reihe vor dem Doktor aufstellten, und ihnen zu erklären, was sie erwartete. Rachel saß auf einem Baumstumpf und zerteilte mit zwei Skalpellen den Kuhpockenschorf in dem kleinen Holzkästchen in winzige Stücke. Wenn ein Patient vor Shaman trat, fasste Charlie Keyser dessen linke Hand und hob sie, bis die Innenseite des Oberarms bloßlag, die Stelle, die gegen zufällige Verletzungen am besten geschützt ist. Mit einem spitzen Skalpell setzte Shaman einen flachen Schnitt und legte ein winziges Stück des Schorfs in die Wunde. Die Arbeit war nicht kompliziert, musste aber mit Sorgfalt erledigt werden, und so bewegte sich die Warteschlange nur langsam. Bei Sonnenuntergang beendete Shaman die Impfung. Ein Viertel der Bewohner von Tama war noch nicht geimpft, aber er sagte ihnen, die Sprechstunde sei beendet und sie sollten tags darauf wiederkommen.
Schlafwandler hatte den Instinkt eines erfolgreichen Baptistenpredigers, und in dieser Nacht rief er die Leute zusammen, um die Besucher mit einem Fest zu ehren. Auf der Lichtung wurde ein großes Feuer angezündet, um das sich alle versammelten. Shaman saß rechts von Schlafwandler, Kleiner Hund saß zwischen Shaman und Rachel, damit er für sie übersetzen konnte. Seinen Helfer Charlie sah Shaman neben einer schlanken, lächelnden Frau sitzen, und Kleiner Hund sagte ihm, sie sei eine Witwe mit zwei kleinen Jungen.
Schlafwandler bat Dr. Cole, er möge ihnen doch von Makwa-ikwa erzählen, der Frau, die ihre Schamanin gewesen war. Shaman wusste natürlich, dass jeder der Anwesenden mehr über das Massaker am Bad Axe wusste als er. Was damals am Zusammenfluss des Bad Axe mit dem Mississippi passiert war, hatte man wahrscheinlich an Tausenden von Lagerfeuern weitererzählt, und auch zukünftige Generationen würden diese Geschichte hören.
Aber er erzählte ihnen, dass zu den von den Langen Messern Getöteten auch ein Mann namens Grüner Büffel gehört hatte und eine Frau namens Vereinigung der Flüsse, Matapya. Er erzählte ihnen, wie ihre zehnjährige Tochter, Zwei Himmel, ihren kleinen Bruder außer Reichweite der Flinten der Armee gebracht hatte, indem sie, den Kleinen mit den Zähnen am Genick haltend, den Masesibowi hinuntergeschwommen war. Shaman berichtete weiter, wie das Mädchen Zwei Himmel ihre Schwester Große Frau gefunden hatte und wie die drei Kinder sich wie Hasen im Gebüsch versteckt hatten, bis die Soldaten sie fanden. Und wie ein Soldat das blutende Baby mit sich genommen hatte, von dem man nie wieder etwas hörte.