Hausbesuche waren für seinen Vater die einzige Möglichkeit gewesen, mit seinen Söhnen zusammenzusein, und den Jungen hatte es sehr gefallen, ihn bei diesen Ausritten zu begleiten. »Jetzt erinnere ich mich an Sie«, sagte er zu Fletcher, »und an Ihre Farm. Ein weißgestrichenes Holzhaus, daneben der rote Stall mit Blechdach und die alte Torfhütte, die Sie als Lagerraum benutzt haben.«
»Ja, genauso war’s. Manchmal sind Sie mitgekommen, manchmal Ihr Bruder - wie heißt er gleich wieder?«
»Sie meinen Bigger, meinen Bruder Alex.«
»Ja. Wo steckt der jetzt?«
»Beim Militär.« Er sagte nicht, in welcher Armee.
»Natürlich. Und Sie werden wohl Pfarrer?« fragte der Schaffner mit einem Blick auf den schwarzen Anzug, der vierundzwanzig Stunden zuvor noch auf einem Verkaufsständer bei Seligman’s in Cincinnati gehangen hatte.
»Nein, ich bin auch Arzt.«
»Mein Gott. Sie sind doch noch gar nicht alt genug.« Shaman spürte, dass seine Lippen sich verkrampften, denn mit seiner Jugend kam er schwerer zurecht als mit seiner Taubheit.
»Ich hin alt genug. Hab’ in einem Krankenhaus in Ohio gearbeitet. Mr. Fletcher... mein Vater ist am Donnerstag gestorben.« Fletchers Lächeln verschwand so langsam und vollständig, dass kein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Trauer blieb. »Ach. Wir verlieren doch immer die Besten, nicht? Im Krieg?«
»Er war schon wieder zu Hause. Im Telegramm stand Typhus.«
Der Schaffner schüttelte den Kopf. »Sagen Sie doch, bitte Ihrer Mutter, dass sie eine ganze Menge Leute in ihre Gebete einschließen werden.« Shaman dankte ihm und erwiderte, das werde sie sehr freuen. »Kommen eigentlich an einer der nächsten Haltestellen noch Imbissverkäufer in den Zug?« fragte er dann.
»Nein. Hier bringt jeder seine Verpflegung mit.« Der Eisenbahner sah ihn besorgt an. »Kaufen können Sie sich erst etwas, wenn Sie in Kankakee umsteigen. Mein Gott, hat man Ihnen das denn nicht gesagt, als Sie die Fahrkarte gekauft haben?«
»Doch, doch. Ich brauche ja nichts. Es hat mich nur interessiert.« Der Schaffner tippte mit dem Finger an sein Mützenschild und ging. Fast im gleichen Augenblick stand die Frau auf der anderen Seite des Mittelganges auf, um sich nach einem umfänglichen Eichenspankorb auf der Gepäckablage zu strecken und dabei von der Brust bis zu den Schenkeln wohlgeformte Kurven zu präsentieren. Shaman ging hinüber und hob den Korb für sie herunter.
Sie lächelte ihn an. »Sie müssen von mir etwas nehmen«, sagte sie. »Wie Sie sehen, habe ich genug für eine ganze Armee.« Er wollte ablehnen, musste aber zugeben, dass ihre Vorräte wirklich für eine Kompanie reichten.
Bald darauf aß er Brathuhn, Gerstenmehlkuchen mit Kürbis und Kartoffelpie. Mr. Fletcher, der mit einem zerdrückten Schinkenbrot zurückkehrte, das er von einem Fahrgast für Shaman erbettelt hatte, grinste und erklärte, Dr. Cole sei im Proviantrequirieren besser als die Potomac-Army. Dann ging er schnell wieder, offensichtlich um das Brot selber zu essen.
Shaman aß mehr, als er redete, und der Appetit angesichts seiner Trauer wunderte und beschämte ihn. Sie redete mehr, als sie aß. Ihr Name war Martha McDonald. Ihr Gatte Lyman war in Rock Island Vertreter für die American Farm Implements Co. Sie drückte ihre Anteilnahme an Shamans Verlust aus. Während sie ihm das Essen reichte, berührten sich ihre Knie, eine angenehme Vertraulichkeit. Er hatte schon sehr früh festgestellt, dass viele Frauen von seiner Taubheit abgestoßen, viele aber auch von ihr erregt wurden. Vielleicht hing letzteres mit dem verlängerten Augenkontakt zusammen, denn während sie sprachen, schaute er ihnen ins Gesicht- eine reine Notwendigkeit, da er von ihren Lippen ablesen musste, was sie sagten. Er machte sich keine Illusionen über sein Aussehen. Auch wenn man ihn nicht gerade schön nennen konnte, war er doch groß, ohne tolpatschig zu wirken, er verströmte die Energie junger Männlichkeit und ausgezeichneter Gesundheit, und seine ebenmäßigen Gesichtszüge und die klaren blauen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, ließen ihn zumindest anziehend erscheinen. Aber all das war im Zusammenhang mit Mrs. McDonald bedeutungslos. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nie mit einer verheirateten Frau einzulassen, und diese Regel war so unumstößlich wie das Händewaschen vor und nach einer Operation. Deshalb dankte er Mrs. McDonald für das gute Essen und ging, sobald der Rückzug nicht mehr verletzend wirken konnte, zu seinem Platz zurück.
Den Großteil des Nachmittags verbrachte er über seinem Buch. Louisa Alcott berichtete von Operationen, die ohne schmerzbetäubende Mittel durchgeführt wurden, und von Männern, die an infizierten Wunden starben, weil die Lazarette nach Dreck und Verwesung stanken. Tod und Leid hatten ihn schon immer traurig gestimmt, überflüssiger Schmerz und unnötiges Sterben aber machten ihn wütend. Am Spätnachmittag kam Mr. Fletcher noch einmal vorbei und verkündete, der Zug bewege sich mit einer Geschwindigkeit von fünfundvierzig Meilen pro Stunde vorwärts, dreimal so schnell wie ein Pferd, und das ohne zu ermüden. Genauso hatte ein Telegramm Shaman, schon am Morgen nachdem es geschehen war, vom Tod des Vaters unterrichtet. Er überlegte sich verwundert, dass die Welt in eine Ära schneller Transportmittel und noch schnellerer Kommunikation trieb, in eine Ära neuer Krankenhäuser und Behandlungsmethoden, einer Chirurgie ohne Schmerzen entgegen. Doch da ihn solch erhabene Gedanken müde machten, zog er heimlich Martha McDonald mit den Augen aus, um, wenn auch feige, eine angenehme halbe Stunde damit zu verbringen, sich eine medizinische Untersuchung vorzustellen, die in einer Verführung endete - die ungefährlichste und harmloseste Verletzung des Hippokratischen Eids.
Die Ablenkung hielt nicht lange vor. Seine Gedanken landeten immer wieder bei Pa. Je näher er der Heimat kam, desto schwieriger fiel es ihm, sich der Realität zu stellen. Tränen kitzelten hinter seinen Lidern. Ein einundzwanzig Jahre alter Arzt durfte in der Öffentlichkeit nicht weinen. Pa... Die Nacht brach schwarz herein, schon Stunden bevor sie in Kankakee umstiegen. Schließlich und, wie ihm schien, viel zu früh - kaum elf Stunden nachdem sie Cincinnati verlassen hatten -verkündete Mr. Fletcher das Ziel der Reise: »Ro-o-ck I-i-i-sla-a-and!« Der Bahnhof war eine Oase des Lichts. Beim Aussteigen entdeckte Shaman sofort Alden, der unter einer Glaslampe auf ihn wartete. Der Knecht klopfte ihn auf den Arm, schenkte ihm ein trauriges Lächeln und begrüßte ihn mit der vertrauten Wendung: »Willkommen zu Hause, jiggety-jig!«
»Hallo, Alden!« Sie blieben einen Augenblick unter dem Licht stehen, damit sie sich unterhalten konnten. »Wie geht’s ihr?«
»Ach, du weißt schon, dreckig. Ist ihr noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen. Hatte ja noch kaum Gelegenheit, allein zu sein, bei all dem Kirchenvolk im Haus und diesem Reverend Blackmer, der ihr den ganzen Tag nicht mehr von der Seite geht.« Shaman nickte. Der unbeugsame Glaube der Mutter war für sie alle eine Prüfung, aber wenn die First Baptist Church ihr in ihrem Kummer helfen konnte, wollte er dankbar dafür sein.
Alden hatte richtig vermutet, dass Shaman nur mit einer Tasche reisen würde, und deshalb das einachsige Gig genommen, das im Gegensatz zum zweiachsigen Buckboard eine gute Federung hatte. Das Pferd war Boss, ein grauer Wallach, den sein Vater sehr gemocht hatte. Shaman streichelte ihm die Nase, bevor er auf den Sitz kletterte. Unterwegs war eine Unterhaltung unmöglich, denn in der Dunkelheit konnte er Aldens Gesicht nicht sehen. Der Knecht roch wie früher: nach Heu und Tabak, ungesponnener Wolle und Whiskey. Auf der Holzbrücke überquerten sie den Rocky River und folgten dann im Trab der Straße nach Nordosten. Das Land zu beiden Seiten konnte Shaman nicht sehen, doch er kannte jeden Baum und jeden Stein. Stellenweise war die Straße nur schwer zu befahren, weil sie das Schmelzwasser in einen Schlammpfad verwandelt hatte. Nach einer Stunde Fahrt hielt Alden an, wie er es immer tat, um das Pferd verschnaufen zu lassen. Er und Shaman stiegen aus, pinkelten auf Hans Buckmans feuchte untere Weide und vertraten sich ein paar Minuten lang die Beine.