Выбрать главу

Sarah erbleichte. »Stimmt mit seinem Kopf etwas nicht?«

»Nein, nein.« Er konnte ihr sagen, wie man das Symptom nannte- Tinnitus -, aber er konnte ihr nicht sagen, was die Geräusche hervorrief, die nur Shaman hörte und sonst niemand.

Shaman hörte nicht auf zu weinen. Sein Vater, seine Mutter und Makwa lagen abwechselnd in seinem Bett und drückten ihn an sich. Erst später sollte Rob erfahren, dass sein Sohn eine Vielzahl von Geräuschen hörte: Knistern, Rauschen, Dröhnen, Zischen. Sie alle waren sehr laut, und Shaman lebte in beständiger Angst. Doch dieser innerliche Höllenlärm verschwand nach drei Tagen. Shaman war mehr als erleichtert, und die wiedergefundene Stille tröstete ihn sehr, aber die Erwachsenen, die ihn liebten, waren gepeinigt von der Verzweiflung in dem kleinen, blassen Gesicht. An diesem Abend schrieb Rob an Oliver Wendell Holmes in Boston und fragte ihn, ob er eine Therapie gegen Taubheit kenne. Darüber hinaus bat er Holmes, für den Fall, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gab, ihm Informationen zur Erziehung eines tauben Sohnes zu schicken.

Keiner wusste, wie sie Shaman behandeln sollten. Während Rob J. nach einer medizinischen Lösung suchte, war Alex es, der die Verantwortung übernahm. Obwohl das Unglück, das seinem Bruder widerfahren war, ihn verwirrte und ängstigte, passte er sich der Situation schnell und geschickt an. Er nahm Shamans Hände und ließ sie nicht mehr los. Wohin der ältere Junge auch ging, folgte ihm der jüngere. Wenn ihre Finger sich verkrampften, wechselte Alex die Seite und nahm die andere Hand. Shaman gewöhnte sich sehr schnell an die Sicherheit, die Biggers schweißige, oft schmutzige Hände ihm boten. Alex passte sehr genau auf ihn auf. »Er will noch etwas«, bemerkte er häufig bei Tisch, und streckte seiner Mutter Shamans leere Schüssel hin, damit sie ihm nachfüllte.

Sarah beobachtete ihre Söhne und merkte, wie sie beide litten. Shaman hörte auf zu reden, und Alex leistete ihm in seiner Stummheit Gesellschaft. Er sprach kaum noch und kommunizierte mit Shaman mit einer Reihe deutlicher Gesten und mit Blicken, denn die beiden jungen Augenpaare waren in ständigem Kontakt.

Sie quälte sich mit der Vorstellung von Situationen, in denen Shaman ein schreckliches Schicksal erlitt, weil er ihre besorgten Warnrufe nicht hören konnte. Sie befahl den Jungen, immer in der Nähe des Hauses zu bleiben.

Das langweilte die beiden bald, und sie saßen mürrisch auf der Erde und spielten dumme Spiele mit Nüssen und Kieseln oder zeichneten mit Zweigen in den Staub. Sie konnte es zwar kaum glauben, doch hin und wieder hörte sie die zwei sogar lachen. Da Shaman seine eigene Stimme nicht hörte, neigte er dazu, zu leise zu sprechen, und sie mussten ihn dann bitten zu wiederholen, was er gemurmelt hatte, doch er verstand sie nicht. Er gewöhnte sich an, zu grunzen anstatt zu sprechen. Wenn Alex der Geduldsfaden riss, vergaß er die Gegebenheiten. »Was?« rief er dann. »Was, Shaman?« Doch dann erinnerte er sich an die Taubheit seines Bruders und verlegte sich wieder aufs Gestikulieren. Mit der Zeit übernahm er von Shaman die schlechte Gewohnheit zu grunzen, um etwas zu verdeutlichen, das er mit seinen Händen ausdrückte. Sarah konnte diese schnaubenden Geräusche nicht ertragen, denn die ließen ihre Söhne in ihren Augen wie Tiere erscheinen. Auch sie nahm eine schlechte Gewohnheit an, denn sie stellte sich oft hinter sie und klatschte in die Hände, schnippte mit den Fingern oder rief ihre Namen, um auszuprobieren, ob Shaman wirklich noch taub war. Wenn sie im Haus mit dem Fuß aufstampfte, brachte die Erschütterung des Bodens Shaman dazu, den Kopf zu drehen. Ansonsten war Alex’ böser Blick die einzige Reaktion auf ihre Einmischung. Sie war eine unbeständige Mutter gewesen, hatte sie es doch oft vorgezogen, mit Rob J. auszureiten, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Mann das Wichtigste in ihrem Leben war, so wie sie einsah, dass für ihn die Medizin die Hauptantriebskraft in seinem Leben war, wichtiger noch als seine Liebe zu ihr; aber so war es eben. Weder für Alexander Bledsoe noch für einen anderen Mann hatte sie je empfunden, was sie für Rob J. Cole empfand. Jetzt, da einer ihrer Söhne bedroht war, wandte sie ihre Liebe wieder mit ganzer Kraft ihren Kindern zu, doch es war zu spät. Alex war nicht bereit, ein Quentchen von seinem Bruder abzurücken, und Shaman hatte sich daran gewöhnt, von Makwa-ikwa abhängig zu sein.

Makwa hatte nicht die Absicht, etwas gegen diese Abhängigkeit zu tun, im Gegenteil, sie nahm ihn für lange Zeitspannen mit in ihr hedonoso-te und wachte über jede seiner Bewegungen. Einmal sah Sarah, wie sie zu der Stelle lief, wo Shaman Wasser gelassen hatte, und etwas von der nassen Erde in eine Schale schaufelte, als sammle sie die Reliquien eines Heiligen ein. Sarah hielt die Frau für einen Sukkubus, der versuchte, den Teil ihres Gatten für sich zu beanspruchen, den sie selbst am meisten schätzte, und der jetzt auch noch versuchte, ihr Kind in seine Gewalt zu bekommen. Sie wusste, dass Makwa-ikwa Zauberworte sprach, sang und wilde Rituale vollzog, bei denen sie eine Gänsehaut bekam, wenn sie nur daran dachte, doch sie traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen. Sosehr sie sich auch wünschte, dass jemand - wer auch immer und womit auch immer - ihrem Kind helfe, empfand sie doch eine gewisse selbstgerechte Bestätigung, eine Bekräftigung in dem einen, wahren Glauben, als die Tage vergingen und nichts von dem heidnischen Unsinn den Zustand ihres Sohnes besserte.

Nachts lag Sarah wach und quälte sich mit Gedanken an Taubstumme, die sie kannte. Sie erinnerte sich vor allem an eine schwachsinnige, zerlumpte und sehr fette Frau, die sie und ihre Freundinnen durch die Straßen ihres Heimatdorfes in Virginia gejagt und wegen ihrer Korpulenz und ihrer Taubheit verspottet hatten. Bessie, hatte sie geheißen, Bessie Turner. Sie hatten Zweige und Steine nach ihr geworfen, denn in ihrem Übermut wollten sie sehen, wie Bessie auf körperliche Schmerzen reagierte, wenn sie schon die schlimmen Beleidigungen nicht mitbekam, die sie ihr nachriefen. Sie fragte sich, ob grausame Kinder auch Shaman durch die Straßen jagen würden.

Langsam dämmerte es Sarah, dass auch Rob Shaman nicht helfen konnte - nicht einmal er. Jeden Morgen verließ er das Haus und ritt zu seinen Hausbesuchen, die Krankheiten anderer Leute nahmen ihn ganz in Anspruch.

Doch er ließ dabei seine eigene Familie nicht im Stich. Es kam ihr nur manchmal so vor, da sie Tag für Tag zusehen musste, wie ihre Söhne sich abmühten.

Die Geigers, die hilfsbereit sein wollten, luden sie öfters zu Abenden ein, wie die beiden Familien sie früher häufig verbracht hatten, doch Rob J. lehnte ab. Er spielte nicht mehr auf seiner Gambe, und Sarah glaubte, er könne es einfach nicht ertragen, Musik zu machen, die Shaman nicht hören konnte.

Sie stürzte sich in die Farmarbeit. Alden Kimball grub ihr ein neues Stückchen Erde um, und sie legte einen höchst ehrgeizigen Gemüsegarten an. Meilenweit suchte sie das Flussufer nach gelben Taglilien ab, die sie in ein Beet vor dem Haus verpflanzte. Sie half Alden und Mond, kleine Herden blökender Schafe auf ein Floß zu treiben, in die Flussmitte zu staken und dann ins Wasser zu stoßen, damit sie ans Ufer schwimmen mussten, wobei die Wolle vor dem Scheren gereinigt wurde. Nach dem Kastrieren der Frühlingslämmer sah Alden sie schief an, als sie den Kübel mit den abgeschnittenen Hoden verlangte, den Prärieaustern, die Alden so gerne aß.

Sarah schälte die sehnige Hülle ab und fragte sich dabei, ob die Hoden eines Mannes unter der runzeligen Haut genauso aussahen. Dann halbierte sie die zarten kleinen Bällchen und briet sie mit wilden Zwiebeln und in Scheiben geschnittenen Bofisten in ausgelassenem Speck. Alden aß seine Portion mit großem Appetit, erklärte sie für ausgezeichnet, und beklagte sich von da an nicht mehr.

Sie hätte beinahe glücklich sein können. Bis auf das eine. Eines Tages kam Rob J. nach Hause und erzählte ihr, dass er mit Tobias Barr über Shaman gesprochen habe. »In Jacksonville wurde eine Schule für Taube eröffnet, aber er weiß nur wenig darüber. Ich könnte hinfahren und sie mir ansehen. Aber... Shaman ist noch so jung.«