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»Jacksonville ist hundertundfünfzig Meilen weit weg. Wir würden ihn kaum noch sehen.«

Er berichtete ihr, dass der Arzt aus Rock Island ihm seine Unwissenheit, was die Behandlung tauber Kinder betraf, gestanden habe. Erst vor einigen Jahren habe er ein achtjähriges Mädchen und ihren sechsjährigen Bruder ihrem Schicksal überlassen müssen. Die beiden Kinder seien schließlich als Mündel des Staates in die Irrenanstalt von Springfield in Illinois gesteckt worden.

»Rob J.«, sagte sie. Durch das offene Fenster drang das kehlige Grunzen ihrer Söhne herein, ein irrsinniges Geräusch, und plötzlich sah sie Bessie Turners leeren Blick wieder vor sich. »Ein taubes Kind zu Verrückten in eine Anstalt zu stecken - das ist böse.« Der Gedanke an das Böse ließ sie erschauern, wie immer. »Glaubst du«, flüsterte sie, »dass Shaman für meine Sünden bestraft wird?«

Er nahm sie in seine Arme, und sie schöpfte Mut aus seiner Kraft, wie sie es stets tat.

»Nein«, antwortete er. Er hielt sie lange. »Ach, meine Sarah. Das darfst du nie denken.« Aber er sagte ihr nicht, was sie tun konnten.

Eines Morgens saßen die beiden Jungen zusammen mit Kleiner Hund und Vogelfrau vor dem hedonoso-te und schälten die Rinde von Weidenruten ab, damit Makwa ihre Medizin daraus brauen konnte, als ein fremder Indianer auf einem knochigen Pferd aus dem Wald am Flussufer geritten kam. Er war vom Aussehen her ein Sioux, alles andere als jung und so dürr, schäbig und abgerissen wie sein Pferd. Seine Füße waren nackt und schmutzig. Er trug Gamaschen und ein Lendentuch aus Hirschleder, und um den Oberkörper den zerfetzten Überrest eines Bisonfells, das ein Gurt aus verknoteten Stofffetzen zusammenhielt. Seine langen, angegrauten Haare waren mit Streifen von Otterhaut nachlässig zu einem kurzen Zopf am Hinterkopf und zwei längeren Zöpfen an den Seiten geflochten. Noch vor ein paar Jahren hätte ein Sauk einen Sioux nur mit der Waffe begrüßt, doch inzwischen wussten beide Stämme, dass sie von einem gemeinsamen Feind bedroht waren, und als der Reiter Makwa-ikwa in der Zeichensprache begrüßte, die die Präriestämme mit unterschiedlichen Dialekten untereinander benutzten, erwiderte sie den Gruß mit ihren Händen.

Sie vermutete, dass er den Wisconsin überquert hatte und dann dem Waldgürtel entlang des Masesibowi gefolgt war. Seine Zeichen gaben ihr zu verstehen, dass er in Frieden komme und der untergehenden Sonne zu den Sieben Nationen folge. Er bat sie um Essen. Die vier Kinder waren fasziniert. Sie kicherten und ahmten das Essen-Zeichen mit ihren kleinen Händen nach.

Er war ein Sioux, also konnte sie ihm nicht einfach etwas ohne Gegenleistung geben. Er tauschte ein geflochtenes Seil gegen einen Teller Eichhörncheneintopf und ein großes Stück Maiskuchen sowie einen kleinen Sack getrocknete Bohnen für unterwegs ein. Der Eintopf war kalt, aber der Sioux stieg ab und aß mit offensichtlichem Hunger. Dann bemerkte er die Wassertrommel und fragte sie, ob sie eine Geisterbeschwörerin sei. Als sie bejahte, setzte er eine unbehagliche Miene auf. Ihre Namen nannten sie nicht, um dem anderen nicht Macht über sich zu geben. Nachdem er gegessen hatte, warnte sie ihn, keine Schafe zu jagen, da die weißen Männer ihn sonst töten würden, und er stieg wieder auf sein dürres Pferd und ritt davon. Die Kinder spielten noch immer mit ihren Händen und machten Zeichen, die nichts bedeuteten, außer Alex, der sich das Essen-Zeichen gemerkt hatte. Makwa brach ein Stück von dem Maiskuchen ab, gab es ihm und zeigte dann den anderen, wie man es machte. Hatten sie es begriffen, erhielten sie zur Belohnung ebenfalls ein Stückchen. Diese zwischen den Stämmen benutzte Sprache war etwas, das die Sauk-Kinder eigentlich beherrschen sollten, deshalb brachte sie ihnen auch das Zeichen für Weide bei. Die weißen Kinder ließ sie aus Freundlichkeit am Unterricht teilhaben. Doch dann sah sie, dass Shaman die Zeichen sehr schnell zu begreifen schien, und ihr kam ein aufregender Gedanke, der sie dazu brachte, sich auf ihn mehr zu konzentrieren als auf die anderen.

Zusätzlich zu den Zeichen für Essen und Weide zeigte sie ihnen die für Mädchen, Junge, Waschen und Anziehen. Das war in ihren Augen genug für den ersten Tag, doch sie hielt sie dazu an, sie immer wieder zu üben, bis sie die Zeichen perfekt beherrschten. Für die Kinder war das ein aufregendes, neues Spiel.

Als Rob J. an diesem Nachmittag heimkehrte, brachte Makwa-ikwa die Brüder zu ihm und zeigte ihm, was sie gelernt hatten. Rob J. sah seinem tauben Sohn nachdenklich zu. Er sah, dass Makwas Augen vor Stolz über das Erreichte leuchteten, und er lobte die Kinder und dankte Makwa, die versprach, ihnen noch weitere Zeichen beizubringen. »Wozu soll denn das gut sein?« fragte Sarah bitter, als sie alleine waren. »Was bringt es, wenn unser Sohn mit seinen Händen reden kann, aber nur von einem Haufen Indianer verstanden wird?«

»Es gibt eine ähnliche Zeichensprache für die Taubstummen«, erwiderte Rob J. nachdenklich. »Ich glaube, ein Franzose hat sie erfunden. An der Universität habe ich selber gesehen, wie sich zwei Taubstumme mit Gebärden problemlos verständigt haben. Wenn ich mir ein Buch mit diesen Zeichen schicken lasse und wir sie mit Shaman lernen, können wir mit Shaman reden und er mit uns.« Widerstrebend gab sie zu, dass es einen Versuch wert sei.

In der Zwischenzeit, beschloss Rob J., würde es dem Jungen nicht schaden, wenn er die indianischen Zeichen lernte.

Von Oliver Wendeil Holmes kam ein langer Brief. Mit der für ihn typischen Gründlichkeit hatte er die Literatur in der Bibliothek der Harvard Medical School durchforstet und einer Reihe von Autoritäten Shamans Fall, soweit er ihn aus Rob J.s Schreiben kannte, vorgelegt. Er sah nur wenig Hoffnung für eine Besserung von Shamans Zustand. Manchmal, schrieb er, erlangen Patienten ihr Gehör wieder, die in der Folge von Krankheiten wie Masern, Scharlach oder Gehirnhautentzündung vollständig taub wurden. Aber oft hat eine massive Infektion während der Krankheit zu Beschädigung und Vernarbungen des Gewebes geführt, wodurch höchst sensible und komplizierte Prozesse außer Funktion gesetzt werden. Eine Wiederherstellung durch Behandlung ist nicht möglich.

Sie schreiben, dass Sie die beiden äußeren Gehörgänge mit einem Spekulum untersucht haben. Ich würde Ihnen empfehlen, mit Hilfe eines Handspiegels das Licht einer Kerze in das Ohr zu lenken. Mit ziemlicher Sicherheit liegt die Beschädigung tiefer als der Bereich, den Sie untersuchen konnten. Da wir beide seziert haben, wissen wir um die Empfindlichkeit und Komplexität des Mittel- und des Innenohres. Wir werden wohl nie erfahren, ob das Problem des jungen Robert im Trommelfell oder den Gehörknöchelchen oder in der Schnecke liegt. Wir wissen nur, mein lieber Freund, dass Ihr Sohn, falls er bei Eintreffen dieses Briefes noch taub ist, aller Wahrscheinlichkeit nach auch für den Rest seines Lebens taub bleiben wird.

Das Problem, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken müssen, ist also die Frage nach der bestmöglichen Ausbildung.

Holmes hatte sich mit Dr. Samuel G. Howe aus Boston unterhalten, der mit zwei taubstummen und blinden Kindern gearbeitet und ihnen beigebracht hatte, mit anderen zu kommunizieren, indem sie mit ihren Fingern buchstabierten. Drei Jahre zuvor hatte Dr. Howe Europa bereist und dabei beobachten können, wie tauben Kindern beigebracht wurde, deutlich und verständlich zu reden.

Aber in Amerika bringt man Kindern nicht das Reden bei, schrieb Holmes weiter, sondern nur die Zeichensprache. Wenn Ihr Sohn die Zeichensprache lernt, wird er sich nur mit anderen Tauben unterhalten können. Wenn er aber lernt, zu sprechen und von den Lippen der anderen abzulesen, was sie sagen, gibt es keinen Grund, warum er nicht auch in der Gesellschaft normaler Menschen leben könnte.