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Der Band, den er willkürlich zur Hand nahm, war 1842 geschrieben. Beim Durchblättern entdeckte Shaman eine reichhaltige, aber wahllose Aneinanderreihung von medizinischen und pharmazeutischen Notizen und intimen Gedanken. Das Buch war übersät mit Skizzen: Gesichter, anatomische Zeichnungen, der Ganzkörper-Akt einer Frau, seiner Mutter, wie er erkannte. Er betrachtete das noch junge Gesicht und starrte fasziniert das nackte Fleisch an, wohl wissend, dass in dem unübersehbar schwangeren Bauch ein Fötus heranwuchs, der er selbst werden sollte. Er schlug einen früheren Band auf, aus der Zeit, als Robert Judson Cole noch ein junger Mann war, der eben erst mit dem Schiff aus Schottland gekommen war. Auch der enthielt einen weiblichen Akt, diesmal mit einem Gesicht, das Shaman nicht kannte. Die Züge waren nur undeutlich, die Vulva jedoch mit klinischer Detailtreue gezeichnet, und Shaman sah sich plötzlich vertieft in den Bericht über eine Affäre, die sein Vater mit einer Frau in seiner Pension gehabt hatte.

Während er las, wurde er immer jünger. Die Jahre fielen von ihm ab, sein Körper entwickelte sich zurück, die Erde drehte sich in Gegenrichtung, und die zerbrechlichen Geheimnisse und Leiden der Jugend erstanden neu. Er war wieder ein Junge, der verbotene Bücher las und nach Worten und Bildern suchte, die ihm alles über die geheimen, niederen und vielleicht unermesslich wunderbaren Dinge verrieten, die Männer mit Frauen anstellten.

Zitternd stand er da und gab acht, ob nicht vielleicht sein Vater zur Tür hereinkäme und ihn hier überraschte.

Erst als er merkte, dass seine Mutter mit den Eiern ins Haus kam, zwang er sich, das Buch zu schließen und in die Truhe zurückzulegen. Beim Abendessen sagte er, er habe angefangen, die Habseligkeiten seines Vaters durchzusehen, und er werde eine leere Kiste vom Dachboden holen, um die Sachen darin zu verstauen, die sein Bruder bekommen solle.

Unausgesprochen stand zwischen ihnen die Frage, ob Alex überhaupt noch lebte, ob er zurückkehren und die Sachen benutzen werde. Doch dann entschloss Sarah sich zu einem Nicken. »Gut«, sagte sie, offensichtlich erleichtert, dass ihr Jüngerer sich an die Arbeit gemacht hatte. In dieser Nacht lag Shaman wach und sagte sich, dass ihn die Lektüre dieser Tagebücher zu einem Voyeur mache, zu einem Eindringling in das Leben seiner Eltern, vielleicht sogar in ihr Schlafzimmer, und dass er die Bücher deshalb verbrennen müsse. Doch sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass sein Vater sie geschrieben hatte, um das Wesentliche aus seinem Leben aufzuzeichnen, und während er grübelnd in dem durchhängenden Bett lag, fragte er sich, wie wohl die Wahrheit über das Leben und den Tod von Makwa-ikwa aussah, und er befürchtete, dass diese Wahrheit ernste Gefahren in sich bergen könne.

Schließlich stand er auf, zündete die Lampe an und schlich sich mit ihr hinunter - leise, um seine Mutter nicht aufzuwecken. Er stutzte den qualmenden Docht und drehte die Flamme so hoch wie möglich. Das Licht reichte noch immer kaum zum Lesen, und das Arbeitszimmer war zu dieser Nachtzeit ungemütlich kalt. Doch Shaman nahm den ersten Band und fing an zu lesen, und im gleichen Augenblick vergaß er die schlechte Beleuchtung und die unangenehme Temperatur, denn nun erfuhr er über seinen Vater und sich selbst mehr, als er je hatte wissen wollen.

Zweiter Teil. Frische Leinwand, neues Gemälde

11. März 1839

Der Einwanderer

Zum erstenmal sah Rob J. Cole die Neue Welt, als an einem nebligen Frühlingstag das Postschiff Cormorant - ein schwerfälliges Schiff mit drei kurzen Masten und einem Besansegel, und dennoch der Stolz der Black Ball Line - von der Flut in einen geräumigen Hafen geschoben wurde und dort seinen Anker in die kabbelige Dünung warf. East Boston war nichts Besonderes und bestand nur aus ein paar Reihen schlecht gebauter Holzhäuser, aber von einem der Piers aus nahm Rob J. für drei Pence eine kleine Dampfschiffähre, die ihn auf verschlungenem Kurs durch eine beeindruckende Ansammlung von Schiffen und Kähnen auf die andere Seite, zum eigentlichen Hafenviertel, brachte, einer wild wuchernden Siedlung aus Wohnbauten und Geschäftshäusern, die beruhigend nach verfaulendem Fisch, Bilgenwasser und geteertem Seil roch wie jeder schottische Hafen auch. Er war hochgewachsen und breit, größer als die meisten. Das Gehen fiel ihm schwer, als er sich auf der krummen Kopfsteinpflasterstraße, die vom Wasser wegführte, in Bewegung setzte, denn die Seereise steckte ihm noch in den Knochen. Auf der linken Schulter trug er einen schweren Schiffskoffer, und unter seinem rechten Arm klemmte, als habe er eine Frau um die Taille gefasst, ein großes Saiteninstrument. Er sog Amerika mit jeder Pore ein. Schmale Straßen, kaum breit genug für Karren und Kutschen, die meisten Gebäude aus Holz oder aus sehr roten Ziegeln, die Geschäfte voller Waren, über den Türen farbenfrohe Schilder mit vergoldeten Buchstaben. Er bemühte sich, die Frauen, die aus den Geschäften kamen, nicht anzustarren, obwohl er wie betrunken war vor Sehnsucht nach dem Geruch einer Frau. Er spähte kurz in ein Hotel, das American House, doch die Lüster und die Perserteppiche schüchterten ihn ein, und er wusste, dass die Preise zu hoch für ihn waren. In einem billigen Lokal aß er eine Tasse Fischsuppe und fragte zwei Kellner, ob sie ihm eine billige, aber saubere Pension empfehlen könnten.

»Da musst du dich schon entscheiden, Junge, entweder das eine oder das andere«, sagte der eine. Doch der andere schüttelte den Kopf und schickte ihn zu Mrs. Burton in der Spring Lane. Das einzig freie Quartier war eine ehemalige Dienstbotenkammer auf dem Dachboden neben den Zimmern des Knechts und des Dienstmädchens. Es war nicht nur winzig, sondern man musste auch drei Stockwerke hochsteigen, und da es direkt unter den Dachsparren lag, war es im Sommer mit Sicherheit heiß und im Winter kalt. Es gab lediglich ein schmales Bett, einen kleinen Tisch mit einer angeschlagenen Waschschüssel und einen weißen Nachttopf hinter einem mit blauer Blumenstickerei verzierten Leinentuch. Mit Frühstück - Porridge, Kekse und ein Hühnerei -

koste das Zimmer einen Dollar fünfzig Cent die Woche, erklärte ihm Louise Burton. Sie war eine farblose Witwe Mitte der Sechzig mit unverblümt neugierigem Blick. »Was haben Sie da unterm Arm?«

»Man nennt es eine Gambe.«

»Verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt als Musiker?«

»Ich spiel’ nur zum Vergnügen. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Arzt.«

Sie nickte skeptisch. Dann verlangte sie eine Vorauszahlung und nannte ihm ein Wirtshaus in der Nähe der Beacon Street, wo er für einen weiteren Dollar pro Woche sein Abendessen bekommen könne. Sobald sie gegangen war, fiel er ins Bett. Den ganzen Nachmittag und den Abend schlief er traumlos, nur das Stampfen und Rollen des Schiffs glaubte er gelegentlich noch zu spüren, und am nächsten Morgen erwachte er wieder frisch und jung. Beim Frühstück saß er neben einem anderen Pensionsgast, Stanley Finch, der bei einem Hutmacher in der Summer Street arbeitete. Von Finch erfuhr er zwei äußerst wichtige Dinge: Für vierundzwanzig Cent konnte man sich von Lern Raskin, dem Hausdiener, Wasser erhitzen und in eine winzige Wanne gießen lassen; und in Boston gab es drei Krankenhäuser: das Massachusetts General, das Lying-In und das Eye and Ear Infirmary, die Augen- und Ohrenklinik. Nach dem Frühstück lag er selig in der Wanne und fing erst an, sich abzuschrubben, als das Wasser kalt wurde. Anschließend gab er sich alle Mühe, seine Kleidung so präsentabel wie möglich zu machen. Beim Hinuntergehen sah er das Dienstmädchen, das auf den Knien die Treppe wischte. Ihre nackten Arme waren sommersprossig, und ihr rundlicher Hintern wackelte im Takt der heftigen Schrubbewegungen. Ein mürrisches, altjüngferliches Gesicht sah zu ihm hoch, als er vorbeiging, und er bemerkte, dass die roten Haare, die unter ihrer Haube hervorlugten, die Tönung hatten, die ihm am wenigsten gefiel, nämlich die nasser Karotten. Im Massachusetts General wartete er den halben Vormittag, bis er von einem Dr. Walter Channing empfangen wurde, der ihm ohne Umschweife sagte, dass die Klinik keine zusätzlichen Ärzte brauche. In den beiden anderen Krankenhäusern machte er sehr schnell die gleiche Erfahrung. Im Lying-In schüttelte ein junger Arzt namens David Humphreys Storer mitfühlend den Kopf. »Die Harvard Medical School entlässt jedes Jahr junge Ärzte, die um eine Anstellung Schlange stehen, Dr. Cole. Ehrlich gesagt, ein Fremder hat da wenig Aussicht.« Rob J. wusste, was Dr. Storer nicht gesagt hatte: Einige der ansässigen Jungmediziner profitierten vom Ruf ihrer Familie und von deren Beziehungen, so wie es für ihn in Edinburgh von Vorteil gewesen war, zur bekannten Medizinerdynastie der Coles zu gehören. »Ich würde es in einer anderen Stadt versuchen, vielleicht in Providence oder New Haven«, sagte Dr. Storer, und Rob J. murmelte seinen Dank und verließ ihn. Doch einen Augenblick später kam ihm Dr. Storer nachgelaufen. »Es gibt da noch eine entfernte Möglichkeit«, sagte er. »Sie müssen mit Dr. Walter Aldrich sprechen.« Der Arzt hatte seine Praxis zu Hause, in einem gepflegten weißgestrichenen Holzhaus an der Südseite einer großen Grünfläche, die The Common hieß. Es war gerade Sprechstunde, und Rob J. musste lange warten. Dr. Aldrich erwies sich als stattlicher Mann mit einem grauen Vollbart, der freilich den wie eine Schnittwunde wirkenden Mund nicht verbergen konnte. Er hörte zu, während Rob J. erzählte, und unterbrach ihn hin und wieder mit einer Frage. »Am Universitätskrankenhaus von Edinburgh? Unter dem Chirurgen William Fergusson? Warum haben Sie denn eine solche Assistentenstelle aufgegeben?«