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»Wenn Sie das wissen wollen, fragen Sie ihn doch selber!«

»Mein Gott!« schnarrte Holden verärgert.

Rob J. wich einer aufgestellten Mausefalle aus, als er den Lagerraum verließ. Mit dem Geruch lederner Pferdegeschirre und verfaulender Saatkartoffeln verfolgte ihn Nicks Zorn. »Cole, Ihr Problem ist, dass Sie nicht wissen, wer Ihre wirklichen Freunde sind!«

Vermutlich musste Haskins jeden Abend darauf achten, dass der Käse gut verpackt und das Kräckerfass sorgfältig verschlossen war. Wo wie hier Lebensmittel sind, können Mäuse große Verheerung anrichten, überlegte Rob, während er durch den Laden ging. Und wenn man so nahe an der Prärie wohnte, waren Mäuse eine unvermeidliche Plage.

Vier Tage später saß Samuel T. Singleton mit zwei Stadträten aus Rock Island und drei Stadträten aus Davenport an einem Tisch, um ihnen die steuerliche Situation der Chicago and Rock Island Railroad zu erklären, die vorhatte, zwischen diesen beiden Städten eine Eisenbahnbrücke über den Mississippi zu bauen. Er sprach eben über Wegerechte, als er plötzlich wie verärgert leicht aufseufzte und auf seinem Stuhl zusammensackte. Bis Dr.

Tobias Barr im Saloon eintraf, wusste schon die ganze Nachbarschaft, dass Samuel Singleton tot war. Es dauerte eine Woche, bis der Gouverneur einen Nachfolger bestimmt hatte. Direkt nach dem Begräbnis war Nick Holden nach Springfield gefahren, um zu versuchen, sich den Posten zu sichern. Rob J. konnte sich gut vorstellen, wie er dort an diversen Stellen Druck ausübte, und zweifellos erhielt er auch Unterstützung von seinem gelegentlichen Saufkumpanen, dem aus Kentucky stammenden Vizegouverneur. Doch offensichtlich hatten auch die Leute um Singleton ihre Saufkumpane, denn der Gouverneur bestimmte Singletons Assistenten Stephen Hume dazu, die verbleibenden achtzehn Monate der Wahlperiode an die Stelle des Verstorbenen zu treten. »Jetzt ist Nick unten durch«, bemerkte Jay Geiger. »Bis zum Ende der Wahlperiode wird Hume sich eine sichere Position geschaffen haben. Er geht dann als Amtsinhaber ins Rennen, und Nick hat kaum noch Chancen, ihn zu schlagen.«

Rob war es gleichgültig. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, was in seinen eigenen vier Wänden vor sich ging.

Nach zwei Wochen hörte er auf, seinem Sohn die Hände zu fesseln. Shaman versuchte nicht mehr, Zeichen zu machen, aber er sprach auch nicht. Etwas Totes und Graues lag in dem Blick des kleinen Jungen. Sie nahmen ihn oft in die Arme, aber das war nur ein vorübergehender Trost für das Kind. Sooft Rob den Kleinen ansah, überfielen ihn Selbstzweifel und Hilflosigkeit.

Unterdessen folgten die anderen seinen Anweisungen, als wäre er unfehlbar in der Behandlung von Taubheit.

Wenn sie mit Shaman redeten, sprachen sie langsam und deutlich und zeigten dabei auf ihre Münder, um ihn zum Lippenlesen zu ermutigen. Makwa-ikwa war es schließlich, der eine neue Lösungsmöglichkeit des Problems einfiel. Sie erzählte Rob, wie man ihr und den anderen Sauk-Mädchen in der evangelischen Schule schnell und effektiv das Englischsprechen beigebracht hatte: Bei Tisch hatten sie nur etwas zu essen bekommen, wenn sie auf englisch darum baten. Sarah explodierte vor Wut, als Rob mit ihr darüber sprach. »Es war schon schlimm genug, dass du ihn gefesselt hast wie einen Sklaven. Und jetzt willst du ihn auch noch hungern lassen!«

Aber Rob J. wusste nicht, was er sonst noch ausprobieren sollte, und er verzweifelte langsam. Er sprach lang und ernsthaft mit Alex, der versprach, ihm zu helfen, und bat dann seine Frau, etwas Besonderes zu kochen. Shaman hatte ein Vorliebe für Süßsaures, und Sarah bereitete ein Hähnchen-Stew mit Mehlklößen zu und als Nachtisch warmen Rhabarberkuchen.

Als die Familie an diesem Abend bei Tisch saß und Sarah den ersten Gang hereinbrachte, lief alles ganz ähnlich ab wie an jedem Abend der vorangegangenen Wochen. Rob hob den Deckel von der dampfenden Schüssel und ließ den verführerischen Duft von süß-saurem Hühnchen, Klößen und Gemüsen über den Tisch wehen. Er gab zuerst Sarah, dann Alex. Anschließend winkte er, bis er Shamans Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und deutete dann auf seinen Mund. »Hühn-chen«, sagte er und hob die Schüssel in die Höhe. »Klö-ße.«

Shaman starrte ihn schweigend an. Rob füllte seinen eigenen Teller und setzte sich. Shaman sah zu, wie seine Eltern und sein Bruder mit Appetit aßen, hob seinen Teller und grunzte verärgert.

Rob deutete auf seinen Mund und hob die Schüsseclass="underline" »Hühn-chen.« Shaman streckte ihm seinen Teller hin.

»Hühn-chen«, sagte Rob J. noch einmal. Als sein Sohn stumm blieb, stellte er die Schüssel ab und aß weiter.

Shaman fing an zu schluchzen. Er sah seine Mutter an, die eben ihren Teller leer gegessen hatte, obwohl sie sich dazu hatte zwingen müssen. Sie deutete auf ihren Mund und hielt ihrem Mann den Teller entgegen. »Hühnchen, bitte«, sagte sie, und er bediente sie. Auch Alex bat um eine zweite Portion und bekam sie. Shaman saß da und zitterte vor Verzweiflung, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen angesichts dieses neuen Angriffs, dieses neuen Alptraums: Entzug der Nahrung.

Nachdem Hühnchen und Mehlklöße gegessen waren, wurden die Teller abgeräumt, und dann brachte Sarah den noch ofenwarmen Nachtisch und einen Krug Milch herein. Sie war sehr stolz auf ihren Rhabarberkuchen, den sie nach einem alten Rezept aus Virginia buk. Reichlich Ahornsirup warf Bläschen auf der Oberfläche und karamelisierte langsam mit dem Rhabarbersaft zu einer Kruste, die die darunterliegenden Köstlichkeiten erahnen ließ.

»Ku-chen«, sagte Rob, und Sarah und Alex wiederholten das Wort. »Ku-chen«, sagte Alex, direkt an Shaman gewandt. Es funktionierte nicht. Rob J. schnürte es das Herz zusammen. Er konnte doch nicht zulassen, dass sein Sohn verhungerte! Ein stummes Kind war immer noch besser als ein totes. Verzagt schnitt er sich selber ein Stück ab. »Kuchen!«

Es war ein Aufschrei der Entrüstung, ein Aufbegehren gegen alle Ungerechtigkeit der Welt. Und es war die vertraute, geliebte Stimme, die sie schon so lange nicht mehr gehört hatten. Dennoch saß Rob einen Augenblick lang wie betäubt da und versuchte, sich zu vergewissern, dass es nicht Alex gewesen war, der geschrien hatte.

»Kuchen! Kuchen! Kuchen!« kreischte Shaman. »Kuchen!« Der kleine Körper bebte vor Wut und Verzweiflung.

Das Gesicht war tränennass. Als seine Mutter versuchte, ihm die Nase zu putzen, riss Shaman sich los.

Höflichkeit ist im Augenblick unwichtig, dachte Rob J., für bitte und danke ist auch später noch Zeit. Er deutete auf seinen Mund. »Ja«, sagte er zu seinem Sohn, nickte und schnitt gleichzeitig ein großes Stück vom Rhabarberkuchen ab. »Ja, Shaman: Kuchen!«

Politik

Die flache, mit hohem Gras bewachsene Landparzelle südlich der Geigerschen Farm hatte ein schwedischer Einwanderer namens August Lund von der Regierung erworben. Drei Jahre mühte er sich ab, die dicke Grasnarbe aufzubrechen, doch im Frühling des vierten erkrankte seine junge Frau an Cholera und starb sehr schnell. Der Verlust verleidete ihm das Land und verdüsterte sein Gemüt. Jay kaufte seine Kuh und Rob J. seine Pferdegeschirre und einige Werkzeuge, und beide zahlten ihm mehr als nötig, da sie wussten, wie dringend er wegwollte. Er kehrte nach Schweden zurück, und zwei Jahre lang blieb sein, frisch gepflügtes Land ohne Frucht wie eine verlassene Frau, und die Natur nahm wieder Besitz davon. Dann wurde der Grund über einen Makler in Springfield verkauft, und einige Monate später brachte ein aus zwei Wagen bestehender Treck einen Mann und fünf Frauen auf dieses Land. Wären sie ein Zuhälter und seine Huren gewesen, hätten sie in Holden’s Crossing nicht mehr Aufmerksamkeit erregt. Es handelte sich um einen Priester und Nonnen des römisch-katholischen Franziskanerinnenordens, und im Rock Island County verbreitete sich schnell das Gerücht, sie seien gekommen, um eine Schule zu errichten und Kinder zum Papismus zu verführen. Holden’s Crossing brauchte sowohl eine Schule wie eine Kirche. Über beide Vorhaben hätte man wahrscheinlich noch jahrelang nur geredet, doch die Ankunft der Franziskanerinnen brachte neuen Schwung in die Sache. Nach einer Reihe von abendlichen Zusammenkünften in den Wohnzimmern der Farmer wurde ein Bauausschuss ins Leben gerufen, der die Mittel für einen Kirchenbau beschaffen sollte.