Aber Sarah war verärgert. »Die können sich einfach nicht einigen - wie streitende Kinder. Die einen wollen sparsam sein und nur eine Blockhütte errichten. Andere wollen ein richtiges Holzhaus, einen Ziegel- oder einen Steinbau.« Sie bevorzugte einen Steinbau nebst Glockenturm mit einer richtigen Kirchturmspitze und bemalten Fenstern, eine richtige Kirche eben. Man stritt sich den ganzen Sommer, den Herbst und den Winter, doch im März kam es schließlich zu einer Einigung. Da die Bevölkerung auch noch die Mittel für ein Schulhaus aufbringen musste, beschloss der Ausschuss den Bau einer einfachen, weißgestrichenen Holzkirche.
Die architektonische Kontroverse verblasste neben dem wütenden Streit über das Bekenntnis, dem die Kirche als Gotteshaus dienen sollte. Doch in Holden’s Crossing gab es mehr Baptisten als Anhänger einer anderen Glaubensrichtung, und die Mehrheit setzte sich durch. Der Ausschuss wandte sich an die Kongregation der First Baptist Church in Rock Island, die der im Entstehen begriffenen Schwestergemeinde mit guten Ratschlägen und ein wenig Geld auf die Beine half. Eine Sammlung wurde veranstaltet, und Nick Holden überraschte jeden, weil er die größte Spende gab: fünfhundert Dollar. »Menschenliebe allein bringt den nie und nimmer in den Kongress«, sagte Rob J. zu Jay. »Hume hat hart gearbeitet und die Nominierung der Demokratischen Partei bereits in der Tasche.«
Offensichtlich dachte Holden genauso, denn bald darauf wurde bekannt, dass er mit den Demokraten gebrochen hatte. Einige erwarteten, dass er sich der nationalrepublikanischen Opposition zuwenden würde, doch statt dessen trat er der American Party bei.
»American Party? Die kenn’ ich ja gar nicht«, sagte Jay. Rob klärte ihn auf, denn er erinnerte sich noch gut an die antiirischen Predigten und Hetzartikel dieser »wahren Amerikaner«, die er überall in Boston gehört und gelesen hatte. »Es ist eine Partei, die den im Land geborenen weißen Amerikaner verherrlicht und für die Unterdrückung der Katholiken und aller im Ausland Geborenen eintritt.«
»Welche Ängste und Vorurteile die Leute auch haben, Nick nutzt sie für seine Politik aus«, sagte Jay. »Vor ein paar Tagen stand er auf der Veranda des Gemischtwarenladens und warnte die Leute vor Makwas kleiner Sauk-Gruppe, als wären sie Schwarzer Falke und seine Schar. Er hat einige der Männer ganz schön aufgestachelt.
Wenn wir nicht aufpassen, meinte er, käme es zu Blutvergießen, und Farmern würden die Kehlen durchgeschnitten.« Er verzog das Gesicht. »Unser Nick. Der große Staatsmann!«
Eines Tages erhielt Rob J. einen Brief von seinem Bruder aus Schottland. Es war die Antwort auf den Brief, den Rob acht Monate zuvor abgeschickt und in dem er seine Familie, seine Praxis und seine Farm beschrieben hatte.
Er hatte ein plastisches Bild seines Lebens in Holden’s Crossing gezeichnet und seinen Bruder gebeten, ihm von den Lieben im alten Land zu berichten. Was sein Bruder nun schrieb, war zwar traurig, aber nicht unerwartet, denn bei Robs Flucht aus Schottland war seine Mutter bereits nicht mehr die Kräftigste gewesen. Sie sei drei Monate nach seiner Abreise gestorben, schrieb der Bruder, und liege neben dem Vater unter dem Moos des Kirchhofs von Kilmarnock begraben. Im Jahr darauf sei auch der Bruder des Vaters, Onkel Ranald, gestorben.
Robs Bruder berichtete, dass er die Herde erweitert und mit großen Steinen vom Fuß der Klippe einen neuen Stall gebaut habe. Er blieb eher zurückhaltend in seiner Beschreibung, denn offensichtlich wollte er Rob zwar wissen lassen, dass er mit dem Land gut zurechtkam, andererseits aber jede Andeutung von Wohlstand vermeiden. Rob erkannte, dass es Zeiten gegeben haben musste, zu denen sein Bruder seine Rückkehr gefürchtet hatte. Erbrechtlich stand Rob J. als Ältestem das Land zu, doch am Abend vor seiner Flucht aus Schottland hatte er dem Bruder, der ein leidenschaftlicher Schaffarmer war, den Besitz überschrieben. Er habe, berichtete der Bruder weiter, Alice Broome geheiratet, die Tochter von John Broome, einem Preisrichter bei der Lammschau von Kilmarnock, und dessen Frau Elsa, einer geborenen McLarkin. Rob erinnerte sich noch schwach an Alice Broome, ein dünnes, mausgraues Mädchen, das sein unsicheres Lächeln hinter vorgehaltener Hand versteckte, weil seine Zähne zu lang waren. Er habe mit ihr drei Töchter, schrieb sein Bruder, aber Alice sei wieder in anderen Umständen, und diesmal hoffe er auf einen Sohn, denn die Schafherde werde immer größer, und er brauche Hilfe.
Jetzt, da, sich die politische Situation beruhigt hat, denkst du vielleicht daran, nach Hause zurückzukehren?
An der verkrampften Handschrift merkte Rob, wieviel Angst und Unsicherheit in dieser Formulierung lag und wie sehr sich sein Bruder seiner Befürchtungen schämte.
Er setzte sich sofort hin und schrieb einen Brief, um ihn zu beruhigen. Er werde nicht mehr nach Schottland zurückkehren, außer vielleicht im Alter als Besucher, wenn die Gesundheit und die Mittel es ihm gestatten sollten. Er bestellte Grüße an seine Schwägerin und seine Nichten und gratulierte dem Bruder zu dem Erfolg, den er hatte. Man merke deutlich, schrieb er, dass die Cole-Farm in den richtigen Händen sei.
Nachdem er den Brief abgeschlossen hatte, unternahm er einen langen Spaziergang entlang des Flussufers bis zu dem Steinhaufen, der das Ende seines Landes und den Beginn von Jays Besitz markierte. Diese Cole-Farm hier stand auf besserem Grund als das Anwesen in Kilmarnock: Die Erde war tiefer, das Gras fetter, und es gab mehr Wasser. Inzwischen fühlte er sich für dieses Land verantwortlich. Er kannte seine Gerüche und Geräusche, und er liebte es im Sommer, wenn an heißen, zitronengelben Morgen der Wind das hohe Gras zum Flüstern brachte, aber auch im Winter, wenn es in der kalten, brutalen Umarmung des Schnees lag. Es war sein Land.
Als er ein paar Tage später zu einer Versammlung der Medical Society nach Rock Island fuhr, ging er ins Gerichtsgebäude, um einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen.
Roger Murry, der Gerichtsdiener, las den Antrag umständlich durch. »Drei Jahre Wartezeit, das wissen Sie, Doktor, bevor Sie ein Bürger werden können.« Rob J. nickte. »Ich kann warten. Ich gehe sonst nirgendwohin.«
Je mehr Tom Beckermann trank, desto einseitiger verteilte sich die ärztliche Arbeit in Holden’s Crossing. Rob J.
hatte die Hauptlast zu tragen. Er verfluchte Beckermanns Alkoholismus und wünschte sich, ein dritter Arzt würde in den Ort ziehen. Stephen Hume und Billy Rogers vergrößerten ungewollt noch sein Problem, indem sie überall herumerzählten, dass Doc Cole der einzige Arzt gewesen sei, der Samuel Singleton gesagt hatte, wie krank er wirklich war. Wenn Samuel nur auf Cole gehört hätte, sagte sie, könnte er noch am Leben sein. Rob J.s Ruf wuchs auf diese Art, und immer neue Patienten suchten ihn auf.
Er gab sich größte Mühe, Zeit für Sarah und die Jungen zu erübrigen. Shaman verblüffte ihn, er war wie ein pflanzlicher Organismus, dessen Gedeihen gefährdet gewesen war, der dann aber mit einem neuen Wachstumsschub reagiert hatte und nun überall grüne Triebe zeigte. Er machte vor ihren Augen die schönsten Fortschritte. Sarah, Alex, die Sauks, Alden, alle, die auf der Cole-Farm lebten, übten lange und gewissenhaft mit ihm das Lippenlesen - es war beinahe schon eine Hysterie, so erleichtert waren sie, dass er nicht mehr schwieg -, und nachdem der Junge erst einmal zu sprechen begonnen hatte, redete und redete er. Ein Jahr vor dem Beginn seiner Taubheit hatte er lesen gelernt, und jetzt hatten seine Eltern Schwierigkeiten, ihn mit immer neuen Büchern zu versorgen.
Sarah brachte ihren Söhnen alles bei, was sie konnte, doch sie hatte nur eine sechsklassige Dorfschule besucht und war sich ihrer Grenzen bewusst. In Latein und Rechnen unterrichtete Rob J. die Jungen. Alex hielt sich gut, er war intelligent und fleißig. Shaman aber verblüffte alle mit seiner schnellen Auffassungsgabe. Rob J. gab es einen Stich, wenn er an die angeborene Intelligenz des Jungen dachte. »Er wäre ein guter Arzt geworden, das weiß ich«, sagte er eines Nachmittags bedauernd zu Jay, als sie im Schatten vor dem Haus der Geigers saßen und Ingwerwasser tranken. Er gestand Jay, dass jeder Cole fest hoffe, sein Sohn werde einmal ein Arzt werden. Jay nickte mitfühlend. »Na, da ist doch noch Alex. Der ist doch ein intelligenter Bursche.«