»Man hätte mich nach Australien deportiert, wenn ich nicht geflohen wäre.« Rob J. wusste, dass seine einzige Hoffnung in der Wahrheit lag. »Ich habe ein Pamphlet verfasst, das zu einem Arbeiteraufstand gegen die englische Krone führte, die Schottland seit Jahren ausbluten lässt. Es kam zu Straßenschlachten, Menschen wurden getötet.«
»Eine offene Antwort«, sagte Dr. Aldrich und nickte. »Ein Mann muss für das Wohlergehen seines Landes kämpfen. Mein Vater und mein Großvater haben gegen die Engländer gekämpft.« Er betrachtete Rob J. mit abwägendem Blick. »Es gibt da eine Möglichkeit. Bei einer wohltätigen Einrichtung, die Ärzte zu den Bedürftigen der Stadt schickt.«
Es klang nach schmutziger Arbeit ohne Zukunftsaussichten. Dr. Aldrich sagte, die meisten Gemeindeärzte erhielten fünfzig Dollar pro Jahr und seien froh um die Erfahrung, doch Rob fragte sich, was ein Arzt aus Edinburgh in einem provinziellen Elendsviertel Neues über Medizin lernen könne.
»Wenn Sie Mitglied der Boston Dispensary werden, kann ich Ihnen eine Assistentenstelle für die Abendvorlesungen im anatomischen Institut der Tremont Medical School beschaffen. Das bringt Ihnen zusätzlich zweihundertfünfzig Dollar pro Jahr.«
»Ich glaube nicht, dass ich mit dreihundert Dollar existieren kann, Sir. Ich habe praktisch keine eigenen Mittel.«
»Etwas anderes habe ich nicht anzubieten. Genaugenommen beläuft sich das Jahreseinkommen auf dreihundertfünfzig Dollar. Die freie Stelle ist im achten Distrikt, und für den hat der Beirat des Dispensary vor kurzem eine Erhöhung des Gemeindearztgehalts auf hundert Dollar beschlossen.«
»Warum bekommt man im achten Distrikt doppelt so viel wie in den anderen?«
Nun war es an Dr. Aldrich, offen und ehrlich zu antworten. »Dort leben die Iren«, sagte er in einem Ton, der so dünn und blutleer war wie seine Lippen.
Am nächsten Morgen stieg Robert J. im Haus Washington Street Nr. 109 knarzende Treppen hinauf und betrat die überfüllte Apotheke, die den einzigen Geschäftsraum der Boston Dispensary, einer Art städtischen Gesundheitsbehörde, darstellte. Hier drängten sich bereits die Ärzte, die auf ihre Patientenzuweisungen für diesen Tag warteten. Charles K. Wilson, der Direktor, war geschäftsmäßig kurz angebunden, als Rob J. an die Reihe kam: »Soso. Neuer Arzt für den achten Distrikt, was? Na ja, das Viertel war eine Zeitlang ohne Betreuung.
Die da warten auf Sie«, sagte er und gab ihm einen Stapel Zettel, jeder mit einem Namen und einer Adresse.
Wilson erklärte ihm die Vorschriften und beschrieb ihm den achten Distrikt. Die Broad Street trennte den Hafen und die Docks von den hochaufragenden Häuserzeilen Fort Hills. Als die Stadt noch jung war, prägten Großhändler dieses Viertel, die sich hier prächtige Residenzen bauten, um in der Nähe ihrer Lagerhäuser und Geschäfte zu sein. Im Lauf der Zeit übersiedelten sie in andere, bessere Gegenden, und Yankees aus der Arbeiterschicht übernahmen die Häuser, die dann in kleinere Wohneinheiten unterteilt und von noch ärmeren Einheimischen bezogen wurden, bis schließlich die irischen Einwanderer kamen, die aus den Bäuchen der Schiffe quollen. Zu dieser Zeit waren die riesigen Häuser bereits verkommen und vernachlässigt, die Wohnungen wurden immer weiter unterteilt und zu ungerechtfertigt hohen Preisen wochenweise untervermietet.
Lagerhäuser wurden zu Bienenstöcken aus winzigen Zimmern ohne eine einzige Licht- oder Frischluftquelle, und der Wohnraum war so knapp, dass neben und hinten jedem Gebäude hässliche, windschiefe Hütten entstanden. Das Ergebnis war ein abscheuliches Elendsviertel, in dem bis zu zwölf Personen ein Zimmer bewohnten: Eheleute, Brüder, Schwestern und Kinder, die manchmal alle in ein und demselben Bett schliefen.
Wilsons Angaben folgend, fand Rob J. den achten Distrikt. Der Gestank der Broad Street, das Miasma, das zu wenige und von zu vielen Menschen benutzte Toiletten ausströmten, war der Geruch der Armut, der in jeder Stadt der Welt der gleiche war. Doch ein Teil Rob J.s, der genug davon hatte, ein Fremder zu sein, freute sich über die irischen Gesichter. Denn diese Menschen waren keltischer Abstammung wie er. Sein erster Patientenschein lautete auf den Namen Patrick Geoghegan am Half Moon Place. Die Adresse hätte ebensogut auf einem anderen Planeten sein können, denn in dem Labyrinth von Gassen und namenlosen Privatwegen, die von der Broad Street abgingen, verirrte er sich sofort. Schließlich gab er einem Jungen mit schmutzigem Gesicht einen Penny, um sich zu einem winzigen, überfüllten Platz führen zu lassen. Weitere Nachforschungen brachten ihn in den obersten Stock eines Hauses, wo er sich durch Zimmer, die von zwei anderen Familien bewohnt wurden, einen Weg zu der winzigen Unterkunft der Geoghegans bahnte. Eine Frau saß in dem Zimmer und suchte bei Kerzenlicht den Kopf eines Kindes nach Läusen ab.
»Patrick Geoghegan?«
Rob J. musste den Namen wiederholen, bevor er mit einem heiseren Flüstern belohnt wurde: »Mein Dad... Vor fünf Tagen isser gestorben, am Hirnfieber.«
So nannten auch die Leute in Schottland jedes hohe Fieber mit Todesfolge. »Das tut mir sehr leid, Madam«, sagte er. Doch sie sah nicht einmal auf.
Unten im Hof blieb er stehen und sah sich um. Er wusste, dass es in jedem Land solche Straßen gab, Straßen, in denen eine so erdrückende Ungerechtigkeit herrschte, dass sie ihre eigenen Bilder, Geräusche und Gerüche hervorbrachten: Ein käsig-bleiches Kind saß auf einer Schwelle und nagte an einer Speckrinde wie ein Hund an einem Knochen; drei nicht zueinander passende Schuhe, so abgetragen, dass sie nicht mehr zu reparieren waren, schmückten die mit Abfall übersäte, staubige Gasse; ein Betrunkener sang ein weinerliches Lied über die grünen Hügel eines entfernten Landes wie eine Hymne; und über allem waberte der Geruch von gekochtem Kohl und der feuchte Gestank von verstopften Abflüssen und unzähligen Arten von Dreck. Er kannte die Armenviertel von Edinburgh und Paisley und die steinernen Häuserschluchten unzähliger Städte, wo Erwachsene und Kinder vor Tagesanbruch aufbrachen, um sich zu den Baumwollfabriken und Wollspinnereien zu schleppen und erst lange nach Anbrach der Nacht zurückzukehren, Menschen, die ausschließlich in der Dunkelheit unterwegs waren. Ihm kam plötzlich die Ironie seiner Lage zu Bewußtsein: Aus Schottland war er geflohen, weil er die Kräfte bekämpft hatte, die solche Elendsviertel entstehen ließen, und jetzt, in diesem neuen Land, wurde er wieder mit der Nase hineingestoßen. Sein zweiter Schein führte ihn zu Martin O’Hara am Humphrey Place, einer Hüttensiedlung am Rande von Fort Hill. Er musste über eine knapp zwanzig Meter hohe Holztreppe, die so steil war, dass man sie beinahe wie eine Leiter hochklettern musste. Neben der Treppe verlief eine offene Rinne, in der die ungeklärten Abwässer des Humphrey Place nach unten stürzten und die Probleme des Half Moon Place noch verschlimmerten.