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Danach hob sie ihr blasses Gesicht und schaute in die tränenfeuchten Augen von Reverend Perkins. »Lobe den Herrn«, flüsterte er. Mit seinen langen, schmalen Fingern umfasste er ihren Kopf und zwang sie auf die Knie.

»Gott«, betete er dann mit strenger Stimme, »sprich diese gute Frau von ihrem Fehltritt frei! Denn sie hat am heutigen Tag in diesem deinem Haus gebeichtet, hat das Blut der Sünde von ihrer Seele gewaschen und sie weiß gemacht wie die Rose, rein wie den ersten Schnee.«

Das Murmeln der Gemeinde schwoll an zu kräftigen Rufen: »Lobet den Herrn! Amen! Halleluja! Amen. Amen.«

Sarah spürte, wie ihre Seele leichter wurde. Während die Kraft des Herrn durch Mr. Perkins’ Fingerspitzen in ihren Körper strömte, war ihr, als schwebte sie noch in diesem Augenblick ins Paradies. Die Gemeinde platzte förmlich vor Aufregung. Jeder wusste von dem Überfall auf das Eisenbahnbüro und dass als Anführer der Gesetzlosen Frank Mosby erkannt worden war, dessen verstorbener Bruder Bill, so das Gerücht, Sarah Coles ersten Sohn gezeugt hatte. Deshalb ergötzten sich alle in der Kirche am Drama dieser Beichte, sie beglotzten Sarah Coles Gesicht und Körper und stellten sich alle möglichen lasziven Szenen vor, die sie später schockiert flüsternd als mutmaßliche Tatsachen unter Freunden und Nachbarn weiterverbreiteten. Als Mr. Perkins Sarah schließlich gestattete, in ihre Bank zurückzukehren, streckten sich ihr eifrige Hände entgegen, und viele Stimmen murmelten Worte der Freude und Glückwünsche. Für Sarah war es die wunderbare Erfüllung eines Traumes, der sie seit Jahren beschäftigt hatte. Es war der Beweis, dass Gott gut war, dass christliche Vergebung neues Hoffen möglich machte und dass man sie in eine Welt aufgenommen hatte, in der Liebe und Barmherzigkeit regierten. Es war der glücklichste Augenblick ihres Lebens.

Am nächsten Morgen fand die Eröffnung der Schule statt, die Kinder hatten ihren ersten Unterrichtstag. Shaman genoss die Gesellschaft von achtzehn Kindern unterschiedlichen Alters und den scharfen Geruch nach frischem Holz, der vom Gebäude und dem Mobiliar ausging. Er freute sich über seine Tafel und die bunten Kreidestifte und über sein Lesebuch, das abgenutzt und zerfleddert war. Die Schule in Rock Island hatte nämlich für ihre Schüler die neuere Ausgabe dieses Lesebuchs angeschafft und die alte Auflage nach Holden’s Crossing verkauft.

Doch beinahe vom ersten Augenblick an stürzten Probleme auf Shaman ein.

Mr. Byers hatte seine Schüler in vier Altersgruppen unterteilt und in alphabetischer Sitzordnung platziert, so dass Shaman an einem Ende des langen Gemeinschaftstisches saß, zu weit von Alex entfernt, um seine Hilfe beanspruchen zu können. Der Lehrer sprach vor Nervosität so schnell, dass Shaman Schwierigkeiten hatte, von seinen Lippen abzulesen. Die Schüler erhielten die Aufgabe, ein Bild von ihrem Zuhause auf die Schiefertafel zu malen und ihren Namen, ihr Alter sowie den Namen und den Beruf ihres Vaters dazuzuschreiben. Mit einer Begeisterung, wie sie nur Schulanfänger aufbringen können, drehten sie sich zum Tisch um und machten sich an die Arbeit. Dass etwas nicht stimmte, merkte Shaman erst, als er den hölzernen Zeigestock auf seiner Schulter spürte.

Mr. Byers hatte der Klasse befohlen, die Arbeit zu beenden und sich wieder zu ihm umzudrehen. Alle hatten gehorcht bis auf den tauben Jungen, der nichts gehört hatte. Als Shaman sich verängstigt umdrehte, sah er, dass die anderen Kinder ihn auslachten. »Wir lesen jetzt vor, was wir geschrieben haben, und zeigen der Klasse unsere Bilder. Wir beginnen mit dir«, sagte der Lehrer, und Shaman spürte wieder den Zeigestock auf seiner Schulter. Er las und stotterte dabei bei einigen Wörtern. Nachdem er sein Bild hergezeigt und sich wieder gesetzt hatte, rief Mr. Byers Rachel Geiger auf, die am anderen Ende des langen Tisches saß. Obwohl Shaman sich vorbeugte, so weit es ging, konnte er weder ihr Gesicht sehen noch von ihren Lippen ablesen. Er hob die Hand.

»Was ist?«

»Bitte«, sagte er höflich, wie seine Mutter es ihm eingeschärft hatte, »ich kann von hier aus die Gesichter nicht sehen. Darf ich mich vor die Klasse hinstellen?«

In seiner letzten Stellung hatte Marshall Byers sich mit Disziplinproblemen herumschlagen müssen, die manchmal so schlimm waren, dass er Angst gehabt hatte, das Klassenzimmer zu betreten. Diese Schule bot ihm eine neue Chance, und er war entschlossen, die jungen Wilden fest an die Kandare zu nehmen. Ein geeignetes Mittel schien ihm eine straffe Sitzordnung zu sein. Alphabetisch und in vier kleinen Gruppen, dem Alter entsprechend. Jeder Schüler an seinem Platz. Er konnte also nicht zulassen, dass dieser Junge beim Vorlesen vor den Schülern stand, ihnen auf den Mund starrte und vielleicht auch noch hinter seinem Rücken Grimassen schnitt, um sie zum Lachen oder zu Flegeleien zu verleiten. »Nein, das darfst du nicht.« Folglich saß Shaman den Großteil des Vormittags einfach da, ohne verstehen zu können, was um ihn herum vorging. In der Mittagspause gingen die Kinder nach draußen und spielten Fangen. Es machte ihm Spaß, bis Lucas Stebbins, der größte Junge in der Schule, Alex beim Abklatschen so anrempelte, dass der zu Boden stürzte. Als Alex sich wieder hochrappelte und wütend die Fäuste ballte, baute Stebbins sich vor ihm auf. »Wülste Schlägern, du Scheißkerl? Wir sollten dich eigentlich gar nich’ mitspielen lassen. Bist ‘n Bastard, sagt mein Pa.«

»Was ist ein Bastard?« fragte Davey Geiger.

»Weißte das nicht?« erwiderte Luke Stebbins. »Das bedeutet, dass ein andrer als sein Pa, ein dreckiger Gauner, der Bill Mosby hieß, Mrs. Cole sein Ding in ihr Pissloch gesteckt hat.« Als Alex sich auf den größeren Jungen warf, versetzte der ihm einen solchen Schlag, dass seine Nase zu bluten anfing und er wieder zu Boden stürzte.

Shaman stürmte auf den Peiniger seines Bruder zu und wurde mit einem solchen Hagel von Schlägen auf die Ohren empfangen, dass einige der Kinder davonliefen, weil sie Angst vor Lucas bekamen.

»Hör auf damit! Du tust ihm weh!« rief Rachel Geiger wütend. Normalerweise hörte Luke auf sie, denn es verwirrte ihn, dass sie mit zwölf Jahren schon Brüste hatte, aber diesmal grinste er nur. »Der ist doch schon taub.

Seinen Ohren kann nichts mehr passieren. Und komisch reden tut der Blödmann außerdem noch«, sagte er fröhlich und versetzte Shaman einen letzten Schlag, bevor er wegging. Wenn Shaman es zugelassen hätte, hätte Rachel die Arme um ihn gelegt und ihn getröstet. So aber saß er mit Alex nur auf der Erde und weinte vor den Augen der anderen Schüler.

Nach der Mittagspause stand Musik auf dem Stundenplan. Der Unterricht bestand im Einstudieren von Liedern und Chorälen, und den Kindern gefiel es, denn es bedeutete eine Abwechslung zum Lernen aus dem Büchern.

Dem tauben Jungen wies Mr. Byers die Aufgabe zu, während der Musikstunde den Aschenkübel neben dem Ofen zu leeren und die Holzkiste mit schweren Scheiten zu füllen, die Shaman von draußen hereinschleppen musste. Shaman kam zu der Einsicht, dass er die Schule hasste.

Alma Schroeder berichtete Rob J. im Glauben, dass er es bereits wisse, voller Bewunderung von der öffentlichen Beichte in der Kirche. Nachdem er alle Einzelheiten erfahren hatte, stritt er sich mit Sarah. Er hatte ihre Pein wahrgenommen und spürte jetzt ihre Erleichterung, aber trotzdem verwirrte und kränkte es ihn, dass sie vor Fremden so intime Details ihres Lebens preisgab.

»Nicht vor Fremden«, korrigierte sie ihn, »vor Brüdern in der Gnade und Schwestern in Christi, die teilgenommen haben an meinem Bekenntnis und meiner Lossprechung.« Mr. Perkins habe ihnen gesagt, dass jeder, der sich im kommenden Frühjahr taufen lassen wolle, sich zuerst in einer Beichte von seinen Sünden befreien müsse, erklärte sie ihm. Es verblüffte sie, dass Rob J. das nicht verstand; für sie war es sonnenklar.