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Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm hin, damit er ihre Lippen sehen konnte. »Dieser Mr. Byers! Er... er kommt mir immer so nahe. Und dann fasst er mich an.«

»Fasst dich an?«

»Hier«, sagte sie und deutete mit ihrer Hand auf das Revers ihres blauen Mantels.

Shaman wusste nicht, wie er auf diese Enthüllung reagieren sollte, denn er hatte so etwas noch nie erlebt. »Was können wir da tun?« fragte er, mehr sich selbst als sie. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«

Erschrocken musste er mit ansehen, wie Rachel wieder zu weinen begann. »Ich werd’ ihn umbringen müssen«, sagte er seelenruhig. Das zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn, und sie hörte auf zu weinen. »Das ist doch albern.«

»Nein. Ich werde es tun.«

Der Schnee fiel inzwischen dichter. Er sammelte sich auf ihrer Haube und ihren Haaren. Ihre braunen Augen, deren dicke, lange Wimpern noch immer von Tränen funkelten, sahen ihn erstaunt an. Eine große, weiße Flocke schmolz auf ihrer glatten Wange, die dunkler war als seine, ein Teint, der irgendwo zwischen der Hellhäutigkeit ihrer Mutter und Makwas bräunlich-dunkler Gesichtsfarbe lag. »Würdest du das wirklich für mich tun?«

Er versuchte, sachlich darüber nachzudenken. Auch er wäre Mr. Byers gern losgeworden, aber Rachels Probleme mit dem Lehrer waren das Zünglein an der Waage, und so konnte er überzeugt nicken. Ihr Lächeln, das merkte Shaman plötzlich, schenkte ihm ein Wohlgefühl, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte.

Sie berührte feierlich seine Brust, genau an der Stelle, an der sie es hasste, von Mr. Byers berührt zu werden.

»Du bist mein treuer Freund, und ich bin deine treue Freundin«, sagte sie, und er wusste sofort, dass sie damit recht hatte. Als sie dann weitergingen, stellte er erstaunt fest, dass die behandschuhte Hand des Mädchens einen Weg zu der seinen fand. Wie ihre blauen Fäustlinge waren auch seine roten von ihrer Mutter gestrickt, die den Coles zu Geburtstagen immer Handschuhe schenkte. Durch die Wolle hindurch verströmte ihre Hand eine Wärme, die von seiner Hand beinahe bis zum Ellbogen hinaufstieg. Doch schon Augenblicke später blieb sie wieder stehen und sah ihn an.

»Wie... wie wirst du es tun?«

Er zögerte, bis ihm aus der kalten Luft eine Formulierung zuflog, die er von seinem Vater oft gehört hatte. »Das will reiflich überlegt sein.«

Schultage

Rob J. genoss die Versammlungen der Medical Society. Manchmal waren sie sogar lehrreich. Meistens jedoch waren es einfach nur Abende in der Gesellschaft von Männern, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie er und mit denen er eine gemeinsame Sprache sprach. Auf der Novemberversammlung sprach Julius Barton, ein junger Arzt aus dem nördlichen County, über Schlangenbisse und erzählte dann von einigen ungewöhnlichen Tierbissen, die er behandelt hatte, darunter auch der Fall einer Frau, die so kräftig in ihr dralles Hinterteil gebissen worden war, dass es geblutet hatte. »Ihr Mann hat behauptet, es sei der Hund gewesen, und das war höchst ungewöhnlich, denn an dem Biss sah man deutlich, dass der Hund ein menschliches Gebiss gehabt haben musste.«

Um sich nicht ausstechen zu lassen, erzählte Tom Beckermann von einem Katzenfreund mit Risswunden an den Hoden, die von einer Katze hätten stammen können oder auch nicht. Tobias Barr bemerkte, das sei nichts Ungewöhnliches. Erst vor ein paar Monaten habe er einen Patienten mit einem zerkratzten Gesicht behandelt.

»Auch der hat behauptet, eine Katze habe ihn so zugerichtet, aber wenn das wahr gewesen wäre, hätte die Katze nur drei Krallen gehabt und die wären so breit gewesen wie die eines menschlichen Kätzchens«, schloss Dr. Barr unter allgemeinem Gelächter.

Er wollte gleich mit einer zweiten Anekdote fortfahren und ärgerte sich deshalb, als Rob Cole ihn unterbrach, um ihn zu fragen, ob er sich noch erinnere, wann genau er diesen Patienten behandelt habe. »Nein«, erwiderte Dr. Barr kurz und kehrte wieder zu seiner Geschichte zurück.

Nach der Versammlung nahm sich Rob den Kollegen noch einmal vor: »Tobias, dieser Patient mit dem zerkratzten Gesicht. Könnte es sein, dass Sie ihn am Sonntag, den dritten September, behandelt haben?«

»Das weiß ich nicht mehr so genau. Hab’s mir nicht aufgeschrieben.« Dr. Barr wusste nur zu gut, dass Dr. Cole gewissenhafter praktizierte als er, und er fühlte sich ertappt, weil er nur unzureichend Buch führte. »Mein Gott, man muss sich doch nicht jede Kleinigkeit aufschreiben, oder? Vor allem bei einem Patienten wie dem, einem Wanderprediger aus einem anderen County, der nur auf der Durchreise war. Wahrscheinlich sehe ich ihn nie wieder, geschweige denn, dass ich ihn noch einmal behandeln muss.«

»Prediger? Erinnern Sie sich an seinen Namen?« Dr. Barr runzelte die Stirn, dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht Patterson?« fragte Rob J. »Ellwood R. Patterson?«

Dr. Barr starrte ihn an. Soweit er sich erinnern konnte, hatte der Patient keine genaue Adresse hinterlassen. »Ich glaube, er hat gesagt, er sei aus Springfield.«

»Zu mir hat er gesagt: aus Chicago.«

»Ist er wegen seiner Syphilis zu Ihnen gekommen?«

»Drittes Stadium.«

»Genau, Syphilis im dritten Stadium«, sagte Dr. Barr. »Hat mich deswegen um Rat gefragt, nachdem ich sein Gesicht behandelt hatte. Das war so ein Kerl, der so viel wie möglich für seinen Dollar herausschlagen wollte.

Wenn er ein Hühnerauge am kleinen Zeh gehabt hätte, hätte ich ihm das auch noch herausschneiden müssen. Ich hab’ ihm etwas Salbe für seine Syphilis verkauft.«

»Ich auch«, sagte Rob J., und beide lächelten.

Dr. Barr machte ein verwirrtes Gesicht. »Der ist wohl abgehauen, ohne Sie zu bezahlen, hm? Suchen Sie deshalb nach ihm?«

»Nein. Ich habe eine Autopsie an einer Frau durchgeführt, die an dem Tag ermordet wurde, an dem Sie den Mann untersuchten. Sie wurde von mehreren Männern vergewaltigt. Unter ihren Fingernägeln fand ich Haut, und ich vermute, dass sie einem der Männer das Gesicht zerkratzt hat.«

Dr. Barr räusperte sich. »Ich erinnere mich, dass zwei Männer vor meiner Praxis auf ihn gewartet haben. Die stiegen ab und setzten sich einfach auf das Vordertreppchen. Einer von ihnen war kräftig gebaut und hatte, wie ein Bär kurz vor dem Winterschlaf, eine anständige Fettschicht unter der Haut. Der andere war eher dürr und jünger. Muttermal unter einem Auge, ich glaube dem rechten. Die Namen der beiden habe ich nicht gehört, und auch sonst fällt mir nichts mehr ein.« Der Präsident der Medical Society neigte zu beruflichen Eifersüchteleien und konnte gelegentlich etwas aufgeblasen sein, aber Rob J. mochte ihn. Er dankte Tobias Barr und verabschiedete sich von ihm.

Mort London hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen wieder beruhigt, vielleicht weil er sich in Nick Holdens Abwesenheit unsicher fühlte, vielleicht aber auch weil er erkannt hatte, dass es sich für einen gewählten Amtsinhaber nicht auszahlte, seine Zunge nicht im Zaum halten zu können. Der Sheriff hörte Rob J. zu, notierte sich die Beschreibungen von Ellwood R. Patterson und den beiden anderen Männern und versprach ölig, Nachforschungen anzustellen. Rob drängte sich der Verdacht auf, dass die Notizen im Papierkorb landen würden, sobald er Londons Büro verließ. Hätte er die Wahl gehabt zwischen einem wütenden und einem aalglatt-diplomatischen Mort, er hätte den wütenden vorgezogen.

Also stellte er seine eigenen Nachforschungen an. Carroll Wilkenson, der Immobilien- und Versicherungsmakler, war Vorsitzender des Pfarrgemeinderats und hatte sich vor der Berufung von Mr. Perkins um die Einladung der Gastprediger gekümmert. Als guter Geschäftsmann führte er über alles Buch. »Da ist es«, sagte er und zog ein zusammengefaltetes Flugblatt heraus. »Das hab’ ich bei einem Versicherungskongress in Galesburg mitgenommen.« Das Flugblatt bot christlichen Kirchen den Besuch eines Predigers an, der über Gottes Pläne für das Mississippi-Tal sprechen würde. Der Besuch wäre für die akzeptierende Gemeinde mit keinen Kosten verbunden, da sämtliche Ausgaben für den Prediger vom Stars and Stripes Religious Institute, 282