Shaman sprach freundlich, aber bestimmt mit ihm. »Von jetzt an nennst du meinen Bruder Alexander. Und mich nennst du Robert«, sagte er.
Rob J. schrieb an das Stars and Stripes Religious Institute einen Brief, in dem er mitteilte, dass er sich in einer kirchlichen Frage an Reverend Ellwood R. Patterson wenden wolle, und um Mr. Pattersons Adresse bat.
Es würde Wochen dauern, bis eine Erwiderung ihn erreichte, wenn sie überhaupt antworteten. Unterdessen erzählte er niemandem, was er wusste oder welchen Verdacht er hatte, bis er eines Abends wieder einmal mit den Geigers musizierte. Sie hatten eben »Eine kleine Nachtmusik« zu Ende gespielt. Sarah und Lillian standen plaudernd in der Küche, kochten Tee und schnitten Früchtekuchen auf, da schüttete Rob J. Jay sein Herz aus.
»Was soll ich tun, wenn ich diesen Prediger mit dem zerkratzten Gesicht wirklich finde? Ich weiß, dass Mort London nicht gerade erpicht darauf ist, ihn vor den Richter zu bringen.«
»Dann musst du Tamtam machen, dass man es bis nach Springfield hört«, erwiderte Jay. »Und wenn die Behörden dort dir nicht helfen wollen, musst du dich an Washington wenden.«
»Bisher war kein Politiker bereit, sich wegen einer toten Indianerin ins Zeug zu legen.«
»Wenn das so bleibt«, sagte Jay, »und wenn du Beweise für seine Schuld hast, dann müssen wir einige rechtschaffene Männer um uns versammeln, die mit Gewehren umgehen können.«
»Würdest du das wirklich tun?«
Jay sah ihn erstaunt an. »Natürlich. Du nicht?«
Rob erzählte Jay von seinem Gelübde der Gewaltlosigkeit.
»Solche Skrupel habe ich nicht. Wenn ein schlechter Mensch mich bedroht, habe ich das Recht, mich zu verteidigen.«
»Deine Bibel sagt: >Du sollst nicht töten!<«
»Ah! Sie sagt aber auch: >Auge um Auge, Zahn um Zahn.< Und: >Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, soll mit dem Tod bestraft werden.<«
»>Wer dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin.<«
»Das ist nicht aus meiner Bibel«, sagte Geiger.
»Ach, Jay, das ist ja das Problem, es gibt zu viele verschiedene Bibeln, die alle behaupten, die Wahrheit zu verkünden.«
Geiger lächelte verständnisvoll. »Rob, ich würde nie versuchen, dich von deinem Freidenkertum abzubringen.
Aber ich möchte dir zum Abschluss nur noch einen Gedanken mitgeben. >Die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit.<«
Dann kamen die Frauen mit dem Tee herein, und die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu.
In der folgenden Zeit dachte Rob J. oft an seinen Freund, manchmal sogar mit einem gewissen Groll. Für Jay war es einfach. Er wickelte sich mehrmals am Tag in seinen fransenbesetzten Gebetsschal, der ihm Sicherheit und Beruhigung über das Gestern und das Morgen gab. Alles war vorgeschrieben: Das ist erlaubt, das ist verboten, man kann nicht fehlgehen. Jay glaubte an die Gesetze Jahwes und der Menschheit, er musste nur den uralten Geboten und den Gesetzen des Parlaments von Illinois gehorchen. Rob J.s Offenbarung aber war die Wissenschaft, ein Glaube, der weniger bequem und noch viel weniger tröstend war. Die Wahrheit stellte seine Gottheit dar, der Beweis seine Gnade und der Zweifel seine Liturgie. Dieser Glaube barg so viele Geheimnisse wie andere Religionen, und er war durchzogen von düsteren Pfaden, die zu großen Gefahren, zu furchterregenden Klippen und tiefen Abgründen führten. Keine höhere Macht erhellte die dunkle, trübe Reise, und Rob hatte nur sein eigenes, schwaches Urteilsvermögen, um einen sicheren Weg zu finden.
An dem der Jahreszeit entsprechend frostigen vierten Tag des Jahres 1852 hielt die Gewalt noch einmal Einzug in der Schule. Rachel kam an diesem eisigkalten Morgen zu spät zur Schule. Als sie eintraf, glitt sie still auf ihren Platz auf der Bank, ohne Shaman zuzulächeln oder grüßend die Lippen zu bewegen, wie sie es sonst tat.
Überrascht bemerkte Shaman, dass ihr Vater sie ins Schulhaus begleitet hatte. Jason Geiger ging zum Pult und blieb vor Mr. Byers stehen. »Nanu, Mr. Geiger. Es ist mir ein Vergnügen, Sir. Was kann ich für Sie tun?«
Auf dem Pult lag Mr. Byers Zeigestab. Jay Geiger nahm ihn und schlug damit dem Lehrer ins Gesicht.
Mr. Byers sprang auf und warf dabei seinen Stuhl um. Er war einen Kopf größter als Jay, aber nur von gewöhnlicher Statur. Später erinnerten sich alle daran, wie komisch die Szene gewirkt hatte: dieser kleine, dicke Mann, der den viel jüngeren, größeren Lehrer mit dessen eigener Gerte schlug, das Auf und Ab seines Armes und die verdatterte Miene Mr. Byers’. Aber an diesem Morgen lachte niemand. Die Schüler saßen stocksteif da und wagten kaum zu atmen. Sie waren nicht weniger verblüfft als Mr. Byers. Was da vor ihren Augen passierte, war noch unglaublicher als Alex’ Boxkampf mit Luke. Shaman sah Rachel an und bemerkte, dass ihr Gesicht, das zuvor noch die Röte der Verlegenheit überzogen hatte, sehr blass geworden war. Es kam ihm vor, als wolle sie sich so taub stellen, wie er es war, und dazu noch blind für alles, was um sie herum passierte.
»Was zum Teufel soll das?« Mr.Byers hielt schützend die Arme vor sein Gesicht und schrie vor Schmerz auf, als der Zeigestab seine Rippen traf. Er machte drohend einen Schritt auf Jay zu. »Sie verdammter Idiot! Sie verrückter kleiner Jude!«
Jay schlug weiter auf den Lehrer ein und trieb ihn zur Tür, bis Mr. Byers hinausstürzte und hinter sich die Tür zuknallte. Dann nahm er den Mantel des Lehrers und warf ihn hinaus in den Schnee, kam zurück und setzte sich schwer atmend auf den Lehrerstuhl. »Der Unterricht ist für heute beendet«, sagte er schließlich, nahm Rachel an der Hand und brachte sie auf seinem Pferd nach Hause. Draußen war es wirklich kalt. Shaman trug zwei Schals, den einen um den Kopf und unter dem Kinn, den anderen vor Mund und Nase, aber trotzdem hatte er bei jedem Atemzug das Gefühl, als würden seine Nasenlöcher zufrieren.
Zu Hause angelangt, lief Alex sofort hinein, um seiner Mutter zu erzählen, was in der Schule passiert war, aber Shaman ging am Haus vorbei hinunter zum Fluss. Das Eis auf der Wasseroberfläche hatte in der Kälte Risse bekommen, es musste ein wundervolles Geräusch gewesen sein. Auch eine große Pappel in der Nähe von Makwa-ikwas schneebedecktem bedonoso-te hatte der Frost zum Bersten gebracht. Es sah aus, als hätte ein Blitz in ihn eingeschlagen. Shaman war froh, dass Rachel sich ihrem Vater anvertraut hatte. Er war erleichtert, dass er Mr. Byers nun doch nicht umbringen musste und dass man folglich ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Leben nicht mehr aufhängen würde. Aber etwas quälte ihn doch wie ein Ausschlag, der nicht verheilte: Wenn Alden es für richtig hielt zu kämpfen, wenn man dazu gezwungen war, und wenn Jay es für richtig hielt, seine Tochter so tatkräftig zu beschützen, was war dann mit seinem Vater los?
Eine nächtliche Behandlung
Schon Stunden nach Marshall Byers’ Flucht aus Holden’s Crossing wurde ein Ausschuss ernannt, der einen neuen Lehrer suchen sollte. Paul Williams gehörte dazu; man wollte dem Schmied zeigen, dass niemand ihm grollte, weil sein Cousin sich so danebenbenommen hatte. Jason Geiger gehörte dazu, denn ihm wollte man zeigen, dass er sich richtig verhalten hatte, indem er Mr. Byers davonjagte. Auch Carroll Wilkenson gehörte zu dem Ausschuss, und das war ein Glück, denn der Makler hatte erst vor kurzem an John Meredith, einen Ladenbesitzer in Rock Island, die Lebensversicherung seines verstorbenen Vaters ausgezahlt. Meredith wiederum hatte Carroll erzählt, wie dankbar er seiner Nichte Dorothy Burnham sei, weil sie ihre Stellung als Lehrerin aufgegeben habe, um seinen Vater während der letzten Tage zu pflegen. Als der Ausschuss Dorothy Burnham zu einem Gespräch einlud, gefiel sie Wilkenson wegen ihres unscheinbaren, reizlosen Gesichts und der Tatsache, dass sie mit Ende zwanzig noch unverheiratet war. Denn so, meinte er, stehe kaum zu befürchten, dass eine Ehe sie der Schule wieder entreißen werde. Jay fühlte sich zu ihr hingezogen, weil sie vom Unterrichten mit einer ruhigen Selbstsicherheit sprach und mit einer Wärme, die darauf hindeutete, dass sie es als Berufung empfand. Für siebzehneinhalb Dollar pro zwölf Wochen stellten sie Miss Burnham ein, eineinhalb Dollar erhielt sie weniger als Mr. Byers, weil sie eine Frau war.