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Acht Tage nach Marshall Byers’ Flucht aus dem Schulhaus war sie bereits die neue Lehrerin. Die Sitzordnung ihres Vorgängers behielt sie bei, da die Kinder bereits daran gewöhnt waren. Sie hatte zuvor in zwei Schulen unterrichtet - einer kleineren in dem Dorf Bloom und einer größeren in Chicago. Was Behinderungen angeht, hatte sie bis dahin nur Erfahrungen mit einem lahmen Kind gemacht, und es interessierte sie sehr, jetzt einen tauben Jungen in ihrer Obhut zu haben. Bei ihrer ersten Unterhaltung mit dem jungen Robert Cole überraschte und faszinierte es sie, dass er alles von ihren Lippen ablesen konnte. Aber sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie beinahe einen halben Tag brauchte, um zu begreifen, dass Rob von seinem Platz aus nicht sehen konnte, was die meisten der Kinder sagten. Es gab im Klassenzimmer noch einen einzelnen Stuhl für Besucher, und den stellte Miss Burnham seitlich vor die lange Bank. Sie ließ Shaman sich darauf setzen, damit er sowohl ihre Lippen wie die seiner Schulkameraden sehen konnte. Von da ab war dies sein fester Platz.

Die zweite große Veränderung für Shaman trat zu Beginn der Musikstunde ein. Wie es seine Gewohnheit geworden war, stand er auf, um die Asche hinauszutragen und frisches Feuerholz zu holen, doch diesmal hielt Miss Burnham ihn zurück und befahl ihm, wieder auf seinen Platz zu gehen.

Dorothy Burnham gab den Kindern mit einer Okarina den Ton an und ließ sie dann die aufsteigende Tonleiter mit den Worten »Die-Schu-le-ist-ein-teu-rer-Ort« und die absteigende zu den Worten »Und-wir-ler-nen-hier-fürs-Le-ben« singen. Doch schon während des ersten Lieds wurde deutlich, dass sie dem tauben Jungen mit der Aufnahme in den Unterricht keinen Gefallen getan hatte, denn der junge Cole saß nur da und starrte die anderen an, und bald trübte sich sein Blick und signalisierte eine leidende Geduld, die Miss Burnham unerträglich fand.

Er brauchte ein Instrument, durch dessen Schwingungen er den Rhythmus der Musik wahrnehmen konnte, beschloss sie. Eine Trommel vielleicht? Aber der Lärm einer Trommel würde den Gesang der anderen Kinder stören.

Nachdem sie eine Weile über das Problem nachgedacht hatte, ging sie zu Haskin ins Geschäft und erbat von ihm eine Zigarrenkiste, in die sie sechs rote Murmeln legte. Die Murmeln machten zunächst zu viel Lärm, wenn die Kiste geschüttelt wurde, doch als sie diese dann mit weichem, blauem Stoff von einem alten Unterhemd ausgekleidet hatte, erhielt sie ein zufriedenstellendes Ergebnis.

Am nächsten Morgen gab sie Shaman die Kiste in die Hand und schüttelte sie im Rhythmus, während die anderen Kinder »America« sangen. Er reagierte und las der Lehrerin die Worte von den Lippen ab, um selber im Takt mitschütteln zu können. Er konnte zwar nicht singen, aber er wurde vertraut mit Rhythmus und Takt, und er formte mit den Lippen stumm die Wörter der Lieder, die seine Klassenkameraden sangen. Bald hatten sich alle an das gedämpfte Klappern von »Roberts Kiste« gewöhnt. Shaman liebt die Zigarrenkiste. Auf dem Deckel prangten das Bild einer dunkelhaarigen Königin mit einem ausgeprägten, chiffonverhüllten Busen und die Worte Panatellas de las Jardines de la Reina mit dem Namenszug Gottlieb Tobacco Importing Company of New York City darunter. Wenn er die Kiste an die Nase hob, konnte er den aromatischen Geruch von Zedernholz und den schwachen Duft des Havanna-Tabaks riechen.

Miss Burnham ließ bald alle Jungen der Klasse abwechselnd früher kommen, damit sie die Asche hinaustrugen und frisches Feuerholz holten. Obwohl Shaman es nie von diesem Standpunkt aus betrachtete, hatte sein Leben doch eine einschneidende Veränderung erfahren, nur weil Marshall Byers nicht in der Lage gewesen war, seine Hände von jugendlichen Brüsten fernzuhalten.

Der März begann frostig, und die Prärie war noch hart gefroren wie Feuerstein, und so zwang Rob J. sich jeden Tag, wenn sein übervolles Wartezimmer sich endlich geleert hatte, noch so viele Hausbesuche wie möglich zu erledigen, denn in wenigen Wochen würde der Schlamm die Ausritte zur Qual machen. War Shaman nicht in der Schule, erlaubte ihm sein Vater, ihn bei diesen Hausbesuchen zu begleiten, denn der Junge versorgte das Pferd und ermöglichte es so dem Arzt, sich gleich um die Patienten zu kümmern. Spät an einem bleiernen Nachmittag ritten sie nach einem Besuch bei Freddy Wall, der an Rippenfellentzündung erkrankt war, die Flussstraße entlang. Rob J. überlegte eben, ob er noch zu Anne Frazier reiten solle, die den ganzen Winter über kränklich gewesen war, oder ob am nächsten Tag auch noch Zeit dafür sei, als drei Männer auf ihren Pferden zwischen den Bäumen hervorkamen. Wie die beiden Coles waren sie gegen die Kälte dick in Mäntel und Schals eingemummt, doch Rob J. entging nicht, dass alle drei Schusswaffen trugen, zwei im Gürtel über dem schweren Mantel, der dritte in einem Halfter, das vorne am Sattel befestigt war.

»Sie sind doch der Doktor, oder?«

Rob J. nickte. »Und Sie?«

»Wir haben einen Freund, der dringend einen Arzt braucht, ‘n kleiner Unfall.«

»Was für ein Unfall? Hat er sich etwas gebrochen?«

»Nein... Na ja, so genau weiß ich das nicht. Vielleicht. Wurde angeschossen. Hier oben.« Er berührte seinen linken Arm unterhalb der Schulter. »Verliert er viel Blut?«

»Nein.«

»Na gut, ich komme. Aber zuerst bringe ich den Jungen nach Hause.«

»Nein«, sagte der Mann noch einmal, und Rob J. sah ihn an. »Ich weiß, wo Sie wohnen, am anderen Ende des Orts. Es ist ein langer Ritt bis zu unserem Freund, in die entgegengesetzte Richtung, fast eine Stunde.«

Rob J. seufzte. »Dann zeigen Sie mir den Weg!« sagte er. Der Mann, der gesprochen hatte, setzte sich an die Spitze. Rob J. entging nicht, dass die beiden anderen warteten, bis er ihm folgte, und dann so knapp hinter seinem Pferd herritten, dass er nicht ausbrechen konnte.

Anfangs ritten sie nach Nordwesten, da war Rob J. sich ziemlich sicher. Er merkte, dass sie immer wieder die Richtung änderten und von Zeit zu Zeit die eigene Spur kreuzten - wie ein Fuchs, der von Hunden gejagt wird.

Die List war erfolgreich, denn Rob J. hatte bald die Orientierung verloren. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie eine Kette bewaldeter Hügel zwischen dem Fluss und der offenen Prärie. Zwischen den Hügeln lagen Sümpfe, die noch zugefroren und deshalb passierbar waren, sich aber in unüberwindliche Schlammlöcher verwandeln würden, sobald die Schneeschmelze einsetzte. Der Anführer hielt sein Pferd an. »Muss Ihnen die Augen verbinden.« Rob J. hütete sich zu protestieren. »Einen Augenblick«, sagte er und drehte sich zu Shaman um. »Sie werden dir jetzt die Augen verbinden, aber du brauchst keine Angst zu haben.« Er sah erleichtert, dass Shaman ruhig nickte. Das Tuch, das Rob J. die Sicht nahm, war alles andere als sauber, und er hoffte, dass Shaman mehr Glück hatte, denn er ekelte sich bei dem Gedanken, dass der Schweiß und der getrocknete Rotz eines Fremden die Haut seines Sohnes berührten. Sie nahmen Rob J.s Pferd an die Leine, und es kam ihm so vor, als ritten sie sehr lange zwischen den Hügeln hindurch, doch vermutlich verging für ihn die Zeit einfach langsamer, weil er nichts sah. Schließlich spürte er, dass das Pferd unter ihm einen Hügel hinaufklomm, und kurze Zeit später hielten sie an. Als man ihm die Binde abnahm, sah er, dass sie vor einer kleinen Hütte unter hohen Bäumen standen, eher einem Schuppen als einem Blockhaus. Es dämmerte bereits, doch die Augen gewöhnten sich schnell daran. Er sah, dass sein Sohn blinzelte. »Alles in Ordnung, Shaman?«

»Alles in Ordnung, Pa.«

Er kannte dieses Gesicht. Und als er in ihm forschte, sah er, dass Shaman vernünftig genug war, Angst zu verspüren. Doch als sie mit den Füßen aufstampften, um die Blutzirkulation wieder in Schwung zu bringen, und dann die Hütte betraten, stellte er beinahe belustigt fest, dass in Shamans Augen neben der Angst auch die Neugier aufblitzte, und er machte sich Vorwürfe, weil es ihm nicht gelungen war, den Jungen irgendwo zurückzulassen, wo er in Sicherheit war.