Trotz des Elends seiner Umgebung bemühte sich Rob J., schnell zu arbeiten, und machte sich dabei vertraut mit seinem Betätigungsfeld. Es war eine anstrengende Tätigkeit, und doch erwarteten ihn am Ende des Nachmittags nur eine karge, von Sorgen umdüsterte Mahlzeit und der Abend mit seiner zweiten Beschäftigung. Die beiden Stellen würden ihm erst nach einem Monat den ersten Lohn einbringen, und für das Geld, das er noch hatte, konnte er sich nicht mehr oft ein Abendessen kaufen.
Das anatomische Institut der Tremont Medical School bestand aus einem großen Raum über Thomas Metcalfes Apotheke am Tremont Place Nr. 35, der gleichzeitig als Hörsaal diente. Geleitet wurde es von einer Gruppe Professoren mit Harvard-Examen, die aus Unzufriedenheit mit der chaotischen Medizinerausbildung an ihrer Alma Mater ein streng reglementiertes und kontrolliertes Dreijahresprogramm entwickelt hatten, das ihrer Ansicht nach bessere Ärzte hervorbrachte. Der Pathologieprofessor, unter dem er als Sezierassistent arbeiten sollte, erwies sich als kurzer, säbelbeiniger Mann, der nur zehn Jahre älter war als er. »Ich heiße Holmes. Sind Sie ein erfahrener Dozent, Dr. Code?«
»Nein. Ich habe noch nie unterrichtet. Aber ich habe Erfahrung in der Chirurgie und beim Sezieren.«
Na, wir werden sehen, schien Dr. Holmes’ kühles Nicken zu bedeuten. Er erklärte ihm kurz die Handgriffe, die zur Vorbereitung der Vorlesung nötig waren. Es handelte sich bis auf wenige Ausnahmen um Routinearbeiten, mit denen Rob J. vertraut war. Er und Fergusson hatten in Edinburgh jeden Morgen vor der Visite Autopsien vorgenommen, zu Forschungszwecken, aber auch zur Übung, damit sie beim Operieren ihrer Patienten immer schneller und sicherer wurden. Jetzt zog Rob J. das Laken von dem dürren Leichnam eines Jungen, band sich eine lange, graue Arbeitsschürze um und legte die Instrumente zurecht, während bereits die ersten Studenten eintrafen. Es waren insgesamt nur sieben Medizinstudenten. Dr. Holmes stand an einem Pult neben dem Seziertisch. »Als ich in Paris Anatomie studierte«, begann er, »konnte sich jeder Student für fünfzig Sou eine komplette Leiche besorgen. Es gab da eine Stelle, an der sie jeden Tag pünktlich um zwölf Uhr mittags verkauft wurden. Aber heutzutage ist das Angebot an Leichen zu Studienzwecken sehr rar. Diese da - ein sechzehnjähriger Junge, der heute morgen an einer Kongestion der Lunge gestorben ist - hat uns die staatliche Wohlfahrtsbehörde überlassen. Doch heute Abend werden Sie noch nicht sezieren. In einer späteren Vorlesung werden wir die Leiche unter Ihnen aufteilen, zwei von Ihnen werden je einen Arm zur Untersuchung bekommen, zwei je ein Bein und die restlichen den Rumpf.«
Während Dr. Holmes erklärte, was sein Assistent tat, öffnete Rob J. den Brustkorb des Jungen und begann, die Organe zu entfernen und zu wiegen, wobei er jedesmal das Gewicht mit lauter Stimme verkündete, damit der Professor es aufschreiben konnte. Danach musste er auf verschiedene Körperpartien deuten, um zu illustrieren, was der Professor sagte. Holmes sprach stockend und mit hoher Stimme, doch Rob J. merkte sehr schnell, dass die Studenten seine Vorlesung als Leckerbissen betrachteten. Er scheute vor derben Ausdrücken nicht zurück, und um zu demonstrieren, wie der Arm sich bewegt, markierte er einen kräftigen Aufwärtshaken; zur Erläuterung des Bewegungsablaufs des Beins schwang er seines hoch in die Luft, und um zu zeigen, wie die Hüfte funktioniert, vollführte er einen Bauchtanz. Die Studenten hingen an seinen Lippen und verfolgten jede seiner Bewegungen, und am Ende der Vorlesung bedrängten sie ihn mit Fragen. Der Professor beantwortete sie und ließ dabei seinen neuen Assistenten nicht aus den Augen, der in der Zwischenzeit die Leiche und die anatomischen Präparate in den Konservierungstank legte, den Tisch schrubbte und dann die Instrumente reinigte, abtrocknete und aufräumte. Rob J. wusch sich gerade gründlich die Hände, als der letzte Student ging.
»Sie waren nicht schlecht.«
Warum auch nicht, wollte Rob J. sagen, es ist schließlich eine Arbeit, die auch jeder intelligente Student verrichten kann. Statt dessen ertappte er sich bei der Frage, ob er einen Vorschuss erhalten könne. »Ich habe gehört, Sie arbeiten für die Dispensary. Ich habe selbst einmal für diesen Verein gearbeitet. Verdammt harte Arbeit, bei der man bestimmt nicht reich wird. Aber sehr lehrreich.« Holmes nahm zwei Fünf-Dollar-Scheine aus seiner Brieftasche. »Genügt ein halber Monatslohn?«
Rob J. versuchte, sich die Erleichterung nicht allzusehr anmerken zu lassen, als er Dr. Holmes versicherte, dass dies genüge. Sie löschten die Lampen, verabschiedeten sich am Fuß der Treppe und gingen ihrer Wege. Als Rob J. an einer Bäckerei vorbeikam, nahm ein Mann eben Tabletts mit Gebäck aus dem Fenster, weil er den Laden schließen wollte, und Rob J. ging hinein und kaufte sich zur Feier des Tages zwei Brombeertörtchen.
Er hatte vor, sie auf seinem Zimmer zu verspeisen, doch im Haus an der Spring Lane war das Dienstmädchen noch auf und wusch das Geschirr. Er ging in die Küche und zeigte ihr die Törtchen. »Eins gehört dir, wenn du mir hilfst, ein bisschen Milch zu klauen.«
Sie lächelte. »Brauchst nicht zu flüstern! Sie schläft schon.« Sie deutete nach oben, wo Mrs. Burtons Zimmer lag. »Wenn die mal schnarcht, weckt sie nichts mehr auf.« Sie trocknete sich die Hände ab und holte Milch, dazu zwei saubere Tassen. Sie heiße Margaret Holland, sagte sie, aber jeder nenne sie Meg. Nach dem Festmahl klebte ihr ein Milchbart an der Oberlippe, und er beugte sich über den Tisch und wischte ihn mit ruhigen Chirurgenfingern weg.
Die Anatomiestunde
Sehr schnell entdeckte Rob J. den schrecklichen Makel, welcher der Arbeitsweise der Dispensary anhaftete. Die Namen auf den Scheinen, die er jeden Morgen erhielt, waren nicht die der am schwersten Erkrankten im Fort-Hill-Viertel. Die medizinische Versorgung erwies sich als ungerecht und undemokratisch. Die Patientenscheine wurden an die reichen Spender der Organisation verteilt, und die füllten sie aus, um sie an jene weiterzugeben, die sie mochten, meistens an ihre eigene Dienerschaft als Belohnung. Häufig wurde er zu Leuten gerufen, die nur geringfügige Beschwerden hatten, während ein paar Türen weiter ein Mittelloser ohne ärztliche Betreuung starb.
Der Eid, den er geleistet hatte, verbot ihm, Schwerstkranke unbehandelt zu lassen, doch wenn er seine Stelle behalten wollte, musste er eine große Anzahl von Scheinen abliefern und nachweisen, dass er die Patienten behandelt hatte, deren Namen auf Ihnen standen.