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Sie drückte die nächste Taste. »Schu-!« Ihre rechte Hand hob sich ein wenig.

Die dritte Taste: »-le!« Und ihre Hand ging noch ein Stückchen höher. So ging sie mit ihm die aufsteigende Tonleiter durch und sagte ihm zu jeder Note den entsprechenden Teil jener Litanei vor, die er bereits aus der Schule kannte: »Die-Schu-le-ist-ein-teu-rer-Ort.« Anschließend führte sie ihn durch die absteigende Tonleiter:

»Und-wir-ler-nen-hier-fürs-Le-ben.«

Immer und immer wieder spielte sie die Tonleitern, damit er sich mit den Unterschieden in den Schwingungen, die seine Hand erreichten, vertraut machen konnte, und dabei achtete sie darauf, dass er auch das graduelle Heben und Senken ihrer Hand bei jeder Note mitbekam. Dann forderte sie ihn auf, die Worte zu singen, die zu den Tonleitern gehörten, nicht nur stumm die Lippen zu bewegen, wie er es in der Schule tat, sondern laut zu singen. Das Ergebnis war alles andere als musikalisch, doch Miss Burnham ging es nicht um Musik. Sie wollte, dass Shaman eine gewisse Kontrolle über die Tonhöhe seiner Stimme erlangte, und nach einigen Versuchen reagierte er wirklich auf das immer energischer werdende Hochsteigen ihrer rechten Hand und hob die Stimme.

Freilich stieg sie um mehr als eine ganze Note, und Shaman starrte wie versteinert Daumen und Zeigefinger seiner Lehrerin an, die ihm vor seinen Augen einen winzigen Abstand signalisierten. Auf diese Weise bedrängte und drangsalierte sie ihn, und Shaman gefiel dieser Unterricht überhaupt nicht. Beharrlich wanderte ihre linke Hand über die Tastatur, nach rechts die Tonleiter hinauf, nach links wieder hinunter, und ihre rechte Hand hob und senkte sich mit den Tönen. Shaman krächzte dazu immer und immer wieder seine Liebe zur Schule heraus.

Manchmal machte er dabei ein mürrisches Gesicht, und zweimal füllten sich seine Augen mit Tränen, doch Miss Burnham schien es nicht zu bemerken.

Schließlich hörte die Lehrerin auf zu spielen. Sie nahm den jungen Robert Cole in die Arme, drückte ihn an sich und strich ihm über die dichten, schwarzen Haare auf seinem Hinterkopf.

»Geh jetzt nach Hause!« sagte sie, nachdem sie ihn wieder losgelassen hatte. Doch als er sich umdrehte, hielt sie ihn noch einmal zurück.

»Morgen nach der Schule probieren wir es wieder.«

Er machte ein langes Gesicht. »Ja, MissBurnham«, sagte er. Seine Stimme war ohne Modulation, doch sie ließ sich nicht entmutigen.

Nachdem er gegangen war, saß sie am Klavier und spielte ein letztes Mal die Tonleiter.

»Ja«, sagte sie.

Dieses Jahr bescherte ihnen nur einen kurzen Frühling. Schon nach wenigen Wochen angenehmer Wärme folgte eine sengende Hitze, die sich wie eine Decke über die Prärie legte. An einem glühendheißen Freitag Mitte Mai wurde Rob J. in Rock Island mitten auf der Hauptstraße von George Cliburn angehalten, einem Quäker und ehemaligen Farmer, der sich auf den Getreidehandel verlegt hatte. »Haben Sie wohl ein wenig Zeit für mich, Doktor?« fragte Cliburn höflich, und ganz automatisch gingen sie gemeinsam aus dem gleißenden Sonnenlicht in den Kühle spendenden Schatten eines Hickorybaumes. »Man hat mir gesagt, Sie haben Mitleid mit Sklaven.«

Rob J. war verblüfft über diese Bemerkung. Er kannte den Getreidehändler nur vom Sehen. George Cliburn stand in dem Ruf, ein guter Geschäftsmann zu sein, schlau, aber fair.

»Meine persönlichen Ansichten gehen niemanden etwas an. Von wem haben Sie denn das?«

»Von Dr. Barr.«

Rob J. erinnerte sich an die Unterhaltung mit Dr. Naismith bei der Versammlung der Medical Society. Er bemerkte, dass Cliburn sich schnell umsah, um sicherzugehen, dass sie ungestört waren. »Obwohl der Staat Illinois die Sklaverei abgeschafft hat, respektieren unsere Behörden das Recht auf Sklavenbesitz anderer Staaten.

Deshalb werden Sklaven, die aus den Südstaaten davongelaufen sind, hier bei uns verhaftet und an ihre Herren zurückgegeben. Man behandelt sie grausam. Ich habe in Springfield mit eigenen Augen ein großes Haus gesehen, das in winzige Zellen unterteilt war, und in jeder dieser Zellen waren schwere Hand- und Fußringe in die Wände eingelassen. Einige von uns... Gleichgesinnte, die alle die Sklaverei für etwas Schlechtes halten, versuchen diesen Menschen beizustehen, die davongelaufen sind, um die Freiheit zu erlangen. Wir möchten Sie einladen, mit uns gemeinsam Gottes Werk zu tun.«

Rob J. wartete darauf, dass Cliburn fortfuhr, bis er merkte, dass der ihm gerade eine Art Angebot gemacht hatte.

»Ihnen beistehen... wie denn?«

»Wir wissen nicht, woher sie kommen. Wir wissen nicht, wohin sie gehen. In mondlosen Nächten werden sie zu uns gebracht und wieder abgeholt. Ihr müsst bloß ein sicheres Versteck vorbereiten, das groß genug ist, einen Mann zu verbergen. Einen Keller, eine Wandnische, ein Erdloch. Und Proviant für drei oder vier Tage.«

Rob J. überlegte nicht lange. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

Der Ausdruck auf Cliburns Gesicht verriet weder Überraschung noch Verärgerung, kam Rob J. aber irgendwie vertraut vor.

»Werden Sie Stillschweigen über unsere Unterhaltung bewahren?«

»Ja. Ja, natürlich.«

Cliburn atmete auf und nickte. »Möge Gott mit Ihnen sein!« sagte er, wappnete sich gegen die Hitze und trat aus dem Schatten.

Zwei Tage später waren die Geigers bei den Coles zum Sonntagsmahl eingeladen. Die Cole-Jungen freuten sich, wenn die Geigers kamen, denn dann gab es immer reichlich zu essen. Sarah war anfangs verstimmt gewesen, dass die Geigers, sooft sie zum Essen kamen, immer ihren Braten ablehnten, da er nicht koscher war. Doch sie hatte gelernt, das zu tolerieren und für Ersatz zu sorgen. Wenn die Geigers nun zum Essen kamen, bot sie immer etwas Besonderes an, eine fleischlose Suppe, zusätzliche Aufläufe und Gemüse und verschiedene Nachspeisen.

Jay hatte ein Exemplar des »Rock Island Weekly Guardian« mitgebracht, der einen Artikel über den Dred-Scott-Prozess enthielt, und er bemerkte dazu, dass der Sklave wohl nur sehr geringe oder überhaupt keine Erfolgschancen habe.

»Malcolm Howard sagt, dass bei ihnen zu Hause in Louisiana jeder Sklaven hat«, sagte Alex, und seine Mutter lächelte.

»Nicht jeder«, sagte sie mit dünner Stimme. »Ich bezweifle, dass Malcolm Howards Papa je viel besessen hat, geschweige denn Sklaven.«

»Hat dein Papa in Virginia auch Sklaven gehabt?« fragte Shaman. »Mein Papa hatte nur ein kleines Sägewerk«, erwiderte Sarah. »Er hatte drei Sklaven, doch dann kam eine schlimme Zeit, und er musste die Sklaven und die Sägemühle verkaufen und für seinen Papa arbeiten, der eine große Farm mit mehr als vierzig Sklaven hatte.«

»Und was ist mit der Familie von meinem Papa in Virginia?« wollte Alex wissen.

»Die Bledsoes waren Ladenbesitzer«, sagte Sarah. »Die hielten sich keine Sklaven.«

»Warum will denn überhaupt jemand Sklave sein?« fragte Shaman. »Die wollen es gar nicht sein«, erklärte Rob J. seinem Sohn. »Das sind einfach nur arme, unglückliche Menschen, die in eine ausweglose Situation geraten sind.«

Jay trank einen Schluck Quellwasser und spitzte die Lippen. »Weißt du, Shaman, so ist das Leben, und so war es im Süden in den letzten zweihundert Jahren. Es gibt Radikale, die schreiben, man müsse alle Schwarzen freilassen. Aber wenn ein Staat wie South Carolina ihnen plötzlich allen die Freiheit gibt, wo sollen die dann leben? Weißt du, jetzt arbeiten sie für die Weißen, und die Weißen kümmern sich um sie. Noch vor ein paar Jahren hatte Lillians Cousin, Judah Benjamin, auf seiner Zuckerplantage in Louisiana einhundertvierzig Sklaven.

Und er hat sich wirklich um sie gekümmert. Mein Vater in Charleston hat zwei Hausneger. Die gehören ihm schon, solange ich denken kann. Er behandelt sie so gut, dass man sie wahrscheinlich aus dem Haus jagen müsste, damit sie ihn verlassen.«

»Ja, so ist es«, sagte Sarah. Rob J. öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und reichte Rachel die Erbsen und die Karotten. Sarah ging in die Küche und kehrte mit einem riesigen Kartoffelauflauf zurück, den sie nach Lillian Geigers Rezept gebacken hatte. Jay stöhnte und meinte, er sei schon voll, streckte ihr aber trotzdem den Teller hin.