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Rob J. wurde klar, dass der Junge, wenn er alt genug war, die Colesche Gabe zu begreifen, auch reif genug war, anderen Tatsachen ins Auge zu sehen. »Du kannst kein Arzt werden, Shaman«, sagte er sanft. »Ein Arzt muss hören können. Ich brauche mein Gehör Tag für Tag zur Behandlung meiner Patienten. Ich horche ihnen die Brust ab, ich horche auf ihren Atem und auf den Klang ihrer Stimme. Ein Arzt muss auch einen Hilfeschrei hören können. Ein Arzt braucht ganz einfach alle fünf Sinne.«

Der Blick, mit dem sein Sohn ihn ansah, traf Rob J. tief ins Herz. »Was werde ich dann tun, wenn ich ein Mann bin?«

»Wir haben eine schöne Farm. Du kannst sie zusammen mit Bigger bewirtschaften«, sagte Rob J., aber der Junge schüttelte den Kopf. »Du kannst aber auch ein Geschäftsmann werden und vielleicht einen Laden führen. Miss Burnham sagt, du bist so ziemlich der intelligenteste Schüler, den sie je hatte. Vielleicht willst du mal selber in einer Schule unterrichten.«

»Nein, ich will in keiner Schule unterrichten.«

»Shaman, du bist doch noch ein Junge. Entscheiden musst du dich erst in einigen Jahren. Halt in der Zwischenzeit die Augen offen! Schau dir die erwachsenen Männer an und die Berufe, die sie ausüben. Es gibt die verschiedensten Arten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Du kannst dir alles mögliche aussuchen.«

»Nur eins nicht«, sagte Shaman.

Rob J. wollte seinem Jungen unnötigen Kummer ersparen und ließ sich deshalb nicht dazu hinreißen, ihn in dem Glauben zu wiegen, ein Traum, der seiner festen Überzeugung nach nicht zu verwirklichen war, könne in Erfüllung gehen. »Ja«, sagte er bestimmt, »nur eins nicht.«

Es war ein trauriger Tag gewesen, und in Rob J. blieb eine erbitterte Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens zurück. Es schmerzte ihn, dass er seinem Sohn diesen schönen und strahlenden Traum hatte ausreden müssen.

Das war ebenso schlimm, wie einem Menschen, der das Leben liebt, zu sagen, dass es keinen Sinn habe, langfristige Pläne zu schmieden.

Er machte eine Runde durch die Farm. In der Nähe des Flusses waren die Moskitos eine Plage, sie kämpften mit ihm um den Platz im Schatten und gewannen. Mond würde er nie mehr wiedersehen, das wusste er. Er hätte ihr gern Lebewohl gesagt. Er hätte sie gefragt, wo Der singend einhergeht begraben liegt. Es wäre ihm ein Anliegen gewesen, sie beide anständig zu begraben, doch jetzt lag wahrscheinlich auch Mond in einem unmarkierten Erdloch, verscharrt wie Hundescheiße. Es machte ihn wütend, wenn er daran dachte, und gleichzeitig fühlte er sich schuldig, denn auch er war ein Grund für ihre Probleme und seine Farm ebenso. Früher hatten die Sauks ertragreiche Felder besessen und Totendörfer, in denen die Gräber gekennzeichnet waren. »Sie waren so böse zu uns«, hatte sie zu Shaman gesagt.

Amerika besaß eine gute Verfassung, er hatte sie sorgfältig gelesen. Sie schenkte den Bürgern Freiheit, doch er erkannte auch, dass sie nur für Menschen mit einer Hautfarbe von Rosa bis Hellbraun galt. Wer dunklere Haut hatte, konnte ebensogut einen Pelz oder Federn haben. Während der ganzen Zeit, die er auf der Farm herumstreifte, suchte er etwas. Zuerst merkte er es gar nicht, und als er sich dessen bewusst wurde, fühlte er sich ein wenig besser, aber nur ein wenig. Der Platz, den er suchte, durfte nicht auf dem Feld oder im Wald liegen, wo Alden, einer der Jungen oder sogar ein Wilderer darüberstolpern konnte. Das Haus selbst war ungeeignet, denn er musste ja auch vor den anderen Familienmitgliedern Geheimhaltung wahren, und das behagte ihm ganz und gar nicht. Seine Praxis war zwar manchmal leer, doch wenn sie geöffnet war, drängten sich in ihr die Patienten. Auch im Stall ging jeder aus und ein. Aber...

An der Rückwand des Stalles war ein Schuppen angebaut, Rob J.s Schuppen. Dort bewahrte er seine Arzneien und Elixiere und andere medizinische Utensilien auf. Neben den zum Trocknen aufgehängten Kräutern und den Regalen voller Flaschen und Töpfe befanden sich in diesem Schuppen auch ein Holztisch und ein Satz Nierenschalen, denn Rob J. führte hier seine Obduktionen durch. Der Anbau war mit einer soliden Holztür und einem starken Schloss gesichert. Die schmale Nordseite des Schuppens war wie die gesamte Nordseite des Stalls in den Hügel hineingebaut, so dass ein Teil dieser natürlichen Wand aus Fels bestand.

Der folgende Tag war angefüllt mit langen Praxisstunden und zahlreichen Hausbesuchen, doch am Morgen danach konnte er sich von seinen ärztlichen Aufgaben losreißen. Er hatte Glück, denn Alden und Shaman waren damit beschäftigt, im abgelegenen Teil der Farm Zäune zu reparieren und eine Futterkrippe zu errichten, und Sarah hatte in der Kirche zu tun. Nur Kate Stryker, die Sarah nach Monds Flucht als Hilfskraft eingestellt hatte, war im Haus, aber Kate würde ihn nicht stören.

Er trug Pickel und Schaufel in den Schuppen und machte sich ans Werk. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal körperlich schwer gearbeitet hatte, und er ließ es deshalb gemächlich angehen. Der Boden am Fuße der Nordwand war steinig und so schwer wie fast überall auf der Farm, aber seine Pickelschläge lockerten die Erde problemlos. Von Zeit zu Zeit schaufelte er sie in einen Schubkarren und fuhr sie zu einer ein gutes Stück von dem Stall entfernten Mulde. Er hatte sich darauf eingerichtet, einige Tage lang zu graben, doch schon am frühen Nachmittag stieß er auf Fels. Die Gesteinswand wich jedoch ein Stückchen nach Norden zurück, so dass er einen Hohlraum freischaufeln konnte, der an einem Ende etwa einen halben Meter tief, am anderen etwa eineinhalb Meter tief und knapp eineinhalb Meter breit war. Die so entstandene Nische war kaum groß genug, um darin zu liegen, vor allem, wenn Proviant und anderes darin gelagert wurde, doch Rob J. wusste, dass sie reichen würde. Er vernagelte die Öffnung mit zolldicken Holzbrettern, die fast ein Jahr im Freien gelegen hatten, so dass sie so alt aussahen wie der übrige Schuppen. Mit einer Ahle vergrößerte er mehrere Nagellöcher und ölte die Nägel ein, damit ein paar der Bretter einfach und geräuschlos entfernt und wieder befestigt werden konnten.

Er war sehr vorsichtig und holte mit dem Schubkarren verfaulende Blätter aus dem Wald, die er über die Mulde streute, um den frischen Aushub zu verbergen.

Am nächsten Morgen fuhr er nach Rock Island, um ein kurzes, aber folgenschweres Gespräch mit George Cliburn zu führen.

Die geheime Nische

In diesem Herbst begann sich für Shaman die Welt zu verändern. Es war kein abrupter, erschreckender Wechsel wie damals beim Verlust seines Gehörs, sondern eine komplexe Verschiebung der Pole, die trotz ihrer Gemächlichkeit nicht weniger radikal war. Alex und Mal Howard waren enge Freunde geworden, und ihre lärmende, ausgelassene Kameradschaft schloss Shaman die meiste Zeit aus. Rob J. und Sarah missbilligten die Freundschaft; sie wussten, dass Mollie Howard eine ewig jammernde Schlampe war und ihr Mann Julian ein fauler Kerl, und sie sahen es nicht gern, dass ihr Sohn sich in der engen, unordentlichen Hütte der Howards aufhielt, denn dort ging auch ein Großteil der Männer des Ortes aus und ein, um sich mit dem Selbstgebrannten zu versorgen, den Julian heimlich und mit großer Ernsthaftigkeit aus Maismaische destillierte.

Zu Halloween dieses Jahres bestätigten sich ihre Befürchtungen, denn an diesem Tag probierten Alex und Mal den Whiskey, den Mal für diesen Zweck beiseite geschafft hatte, als er eine Produktion seines Vaters auf Flaschen ziehen geholfen hatte. So beflügelt, machten sie sich daran, eine Spur umgestürzter Aborthäuschen durch den Ort zu ziehen, die erst endete, als Alma Schroeder schreiend aus ihrem am Boden liegenden Klo krabbelte und GUS Schroeder der alkoholisierten Fröhlichkeit mit dem Fuchteln seiner Büffelflinte Einhalt gebot. Der Vorfall zog einen erbitterten Dauerstreit zwischen Alex und seinen Eltern nach sich, den Shaman am liebsten ungeschehen gemacht hätte, und schon nach den ersten Wortwechseln konnte er sich nicht mehr dazu überwinden, das Weitere von ihren Lippen abzulesen. Eine Aussprache zwischen den beiden Übeltätern, ihren Vätern und Sheriff London verlief noch unangenehmer.