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Er kannte keinen Jäger, der so sorglos in der Nähe eines Wohnhauses und bei solchen Lichtverhältnissen schoss.

Zuerst dachte er an eine mögliche Verbindung zwischen dem Vorfall und der geheimen Nische, kam aber dann zu dem Schluss, dass es keine geben konnte. Wenn ihm jemand Schwierigkeiten machen wollte, weil er entflohenen Sklaven half, würde derjenige warten, bis er wieder einen Schwarzen bei sich versteckte. Dann würde er den törichten Dr. Cole verhaften lassen und das Kopfgeld für den Sklaven kassieren. Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Schuss eine Warnung war, dass jemand ihm einen Denkzettel verpassen wollte. Der Mond stand hoch am Himmel. Es war eine helle Nacht, keine, in der man Verfolgte fortschaffte. Während er so dasaß und die tanzenden Mondschatten der im Wind schwankenden Äste betrachtete, kam ihm die Erkenntnis, dass er nun doch eine Antwort auf seine Briefe erhalten hatte.

Der erste Jude

Rachel fürchtete Jom Kippur, aber sie liebte Pessach, denn dieses achttägige jüdische Osterfest entschädigte sie dafür, dass andere Leute Weihnachten feierten. An Pessach blieben die Geigers in ihrem Haus, das Rachel dann vorkam wie ein sicherer Hafen voller Wärme und Licht. Es war ein Fest der Musik, des Tanzes und der Spiele, der furchteinflößenden biblischen Geschichten mit glücklichem Ausgang und der besonderen Gerichte beim Seder-Mahl, köstliche Matzen, die sie extra aus Chicago kommen ließen, und selbstgebackene Biskuitkuchen, die so hoch und so locker waren, dass sie als Kind ihrem Vater geglaubt hatte, wenn er ihr erzählte, sie müsse nur lange genug hinsehen, dann könne sie sie davonschweben sehen. Ganz anders verliefen dagegen Rosch ha-Schana mit dem abschließenden Jom Kippur: Jeden Herbst packte die Familie nach wochenlanger Planung und Vorbereitung ihre Sachen und brach auf zu einer Reise, die beinahe einen ganzen Tag dauerte. Zuerst fuhren sie mit dem Wagen nach Galesburg, von dort mit dem Zug zu einem Kai am Illinois River und schließlich mit dem Dampfschiff nach Peoria, wo es eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge gab. Obwohl sie vom ganzen Jahr nur diese zwei heiligen Wochen in Peoria verbrachten, galten sie als gebührenpflichtige Mitglieder der Gemeinde mit Sitzplätzen in der Synagoge, die auf ihren Namen reserviert waren. Während der Feiertage wohnten die Geigers immer im Haus von Morris Goldwasser, einem Textilhändler und prominenten Mitglied der Schul. Alles an Mr. Goldwasser war groß und üppig: sein Körper, seine Familie und sein Haus. Er weigerte sich, Geld von Jason Geiger anzunehmen, mit der Begründung, es gehöre zu den Mizwa, einem anderen Juden die Anbetung Gottes zu ermöglichen, und wenn die Geigers ihn für seine Gastfreundschaft bezahlten, beraubten sie ihn damit der göttlichen Gnade. Und so machten sich Lillian und Jason wochenlang über ein Geschenk Gedanken, das ihre Dankbarkeit angemessen zum Ausdruck bringen könnte.

Rachel hasste die gesamte Prozedur, die ihr jedes Jahr den Herbst verdarb - die Vorbereitungen, die Probleme bei der Auswahl des Geschenkes, die anstrengende Reise, die Quälerei, vierzehn Tage im Haus von Fremden verbringen zu müssen, den Schmerz und das Schwindelgefühl während des vierundzwanzigstündigen Fastens an Jom Kippur.

Für ihre Eltern war jeder Besuch in Peoria eine Gelegenheit zur Erneuerung ihres Judentums. Gesellschaftlich waren sie sehr begehrt, denn Lillians Cousin Judah Benjamin war zum Senator für Louisiana gewählt worden -

als erstes jüdisches Mitglied eines Senats -, und alle wollten mit den Geigers über ihn reden, die bei jeder Gelegenheit die Synagoge besuchten. Lillian tauschte Rezepte aus und hörte den neuesten Klatsch, Jay unterhielt sich mit den Männern über Politik, trank ein Gläschen Schnaps mit ihnen und rauchte Zigarren. Er erzählte ihnen enthusiastisch von Holden’s Crossing und berichtete ihnen, dass er versuche, noch andere Juden in den Ort zu ziehen, um irgendwann die zehn Männer zusammenzubekommen, die für die Feier des Gemeindegottesdienstes vorgeschrieben waren. Die anderen begegneten ihm mit Anteilnahme und Verständnis. Aus dem ganzen Kreis waren nur Jay und der aus Newport stammende Ralph Seixas echte Amerikaner, alle anderen waren Einwanderer und wussten nur zu gut, was es hieß, Pionier zu sein. In einem stimmten sie alle überein: Es war schwer, der erste Jude an einem Ort zu sein. Die Goldwassers hatten zwei dickliche Töchter, Rose, die knapp ein Jahr, und Clara, die drei Jahre älter war als Rachel. Solange sie ein Kind gewesen war, hatte Rachel gern mit den Goldwasser-Mädchen Schule, Kochen oder Erwachsensein gespielt, aber in dem Jahr, in dem Rachel zwölf wurde, heiratete Clara einen Hutmacher namens Harold Green. Das Paar lebte bei Claras Eltern, und als die Geigers in diesem Jahr nach Peoria kamen, fand Rachel einiges verändert vor. Clara wollte längst nicht mehr Erwachsensein spielen, sie war inzwischen eine richtige Erwachsene, eine verheiratete Frau. Sie sprach leise und herablassend mit ihrer Schwester und mit Rachel, sie kümmerte sich unermüdlich um ihren Gatten, und am Sabbat durfte sie sogar die Kerzen segnen, eine Ehre, die der Dame des Hauses vorbehalten war. Eines Abends waren die drei Mädchen alleine in dem großen Haus, sie tranken in Roses Zimmer Wein, und die sechzehnjährige Clara Goldwasser-Green vergaß, dass sie eine Dame war. Sie erzählte ihrer Schwester und Rachel alles über den Ehestand. Die bestgehüteten Geheimnisse des intimen Zusammenlebens verriet sie ihnen und ließ sich dabei mit großer Freude am Detail vor allem über die körperliche Beschaffenheit und die Gewohnheiten des jüdischen Mannes aus. Rose und Rachel hatten schon öfters einen Penis gesehen, aber nur im Kleinformat bei jüngeren Brüdern oder Cousins, wenn sie gebadet wurden: ein kleines, rosiges Anhängsel mit einem beschnittenen Köpfchen aus glattem Fleisch und darin ein Loch an der Spitze, aus dem das Wasser kam.

Clara, die mit geschlossenen Augen den Rest ihres Weines hinunterstürzte, ließ sich nun schalkhaft über die Unterschiede zwischen jüdischen Babys und jüdischen Männern aus. Und während sie die letzten Tropfen von der Außenseite ihres Glases leckte, beschrieb sie, wie das süße, harmlose Fleisch sich veränderte, wenn ein Mann sich neben seine Frau legte, und was dann passierte.

Keins der beiden anderen Mädchen schrie entsetzt auf, aber Rose drückte sich mit beiden Händen ein Kissen vors Gesicht. »Und das passiert oft?« fragte sie mit dumpfer Stimme.

»Sehr oft«, bestätigte Clara, und unweigerlich am Sabbat und an Feiertagen, denn Gott habe den jüdischen Mann wissen lassen, dass das eine Gnade sei. »Außer natürlich während der Blutung.« Über die Blutung wusste Rachel Bescheid. Es war das einzige Geheimnis, das ihre Mutter ihr anvertraut hatte. Passiert war es ihr allerdings noch nicht, doch das verriet sie den beiden Schwestern nicht. Ihr machte etwas ganz anderes Sorge, eine Frage der Größenverhältnisse und des gesunden Menschenverstandes, denn sie hatte im Geist einen beunruhigenden Vergleich angestellt. Unbewusst schützte sie ihren Schoß mit der Hand. »Aber das geht doch gar nicht«, sagte sie erblassend.

Manchmal, erklärte Clara, benutze ihr Harold reine koschere Butter. Rose Goldwasser nahm das Kissen vom Gesicht, und aus ihren Augen leuchtete die Erkenntnis. »Ach, deshalb geht uns immer, die Butter aus!« rief sie.

Die nächsten Tage waren für Rachel sehr schwierig. Vor die Wahl gestellt, Claras Enthüllungen als furchterregend oder als komisch zu betrachten, entschieden sie und Rose sich aus Selbstschutz für letzteres.

Beim Frühstück und beim Mittagessen, immer, wenn Butter serviert wurde, brauchten sie sich nur anzusehen, um in ein so albernes Gekicher auszubrechen, dass sie einige Male vom Tisch verbannt wurden. Beim Abendessen, an dem auch die Männer der beiden Familien teilnahmen, war es noch schlimmer für Rachel, denn sie konnte Harold Green nicht gegenübersitzen, ihn ansehen und mit ihm reden, ohne ihn sich eingebuttert vorzustellen.