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Als die Geigers im Jahr darauf Peoria besuchten, musste Rachel enttäuscht feststellen, dass sowohl Clara wie Rose das Haus ihrer Eltern verlassen hatten. Clara und Harold waren Eltern eines Jungen geworden und wohnten in ihrem eigenen kleinen Haus am Fluss. Als sie einmal die Goldwassers besuchten, beschäftigte Clara sich nur mit ihrem Sohn und schenkte Rachel kaum Beachtung. Rose hatte im vergangenen Juli einen Mann namens Samuel Bielfield geheiratet und war mit ihm nach St. Louis gezogen.

An diesem Jom Kippur wurden Rachel und ihre Eltern vor der Synagoge von einem älteren Mann namens Benjamin Schoenberg angesprochen. Mr. Schoenberg trug einen Zylinder, ein weißes, baumwollenes Rüschenhemd und eine schwarze, schmale Krawatte. Er unterhielt sich mit Jay über die Lage im Apothekergewerbe und erkundigte sich dann mit freundlichen Worten bei Rachel, wie es ihr in der Schule gehe und ob sie ihrer Mutter auch eifrig im Haushalt helfe. Lillian Geiger lächelte den alten Mann an und schüttelte dann geheimnisvoll den Kopf. »Es ist noch zu früh«, sagte sie, und Mr. Schoenberg erwiderte ihr Lächeln und verabschiedete sich nach ein paar abschließenden Höflichkeiten.

An diesem Abend bekam Rachel Bruchstücke eines Gesprächs zwischen ihrer Mutter und Mrs. Goldwasser mit und erfuhr auf diesem Weg, dass Benjamin Schoenberg ein Schadchan war, ein Heiratsvermittler, der bereits die Ehen von Clara und Rose gestiftet hatte. Rachel fuhr der Schreck in die Glieder, doch dann erinnerte sie sich erleichtert daran, was ihre Mutter dem Heiratsvermittler gesagt hatte. Sie sei zu jung für die Ehe und ihre Eltern wüssten das, redete sie sich ein, ohne daran zu denken, dass Rose Goldwasser-Bielfield nur acht Monate älter war als sie.

Während des ganzen Herbstes und eben auch in den beiden Wochen, die sie in Peoria verbrachte, veränderte sich ihr Körper. Ihre Brüste entwickelten sich und waren von Anfang an sehr weiblich, weshalb sie sich sehr schnell mit stützenden Kleidungsstücken, Muskelerschlaffung und Rückenschmerzen abfinden musste. Es war das Jahr, in dem Mr. Byers sie betatscht und ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte, bis ihr Vater gegen ihn vorgegangen war. Wenn Rachel sich im Spiegel ihrer Mutter betrachtete, tröstete sie sich damit, dass kein Mann ein Mädchen begehren würde, das glatte, schwarze Haare und schmale Schultern hatte, einen zu langen Hals und zu schwere Brüste, eine altmodische blasse Haut und unscheinbare, braune Kuhaugen. Doch dann kam ihr der Gedanke, dass ein Mann, der ein solches Mädchen akzeptierte, selber hässlich, dumm und sehr arm sein musste, und sie wusste, dass jeder Tag sie einer Zukunft näher brachte, von der sie gar nichts wissen wollte. Sie ärgerte sich über ihre Brüder und behandelte sie gehässig, weil ihnen nicht bewusst war, welche Geschenke und Privilegien sie mit ihrer Männlichkeit erhalten hatten; das Recht etwa, in der Geborgenheit des Elternhauses zu leben, solange sie wollten, oder das Recht, ohne jede Beschränkung zur Schule zu gehen und zu lernen.

Ihre Menstruation setzte erst spät ein. Lillian hatte ihr von Zeit zu Zeit beiläufig Fragen gestellt und sich dabei besorgt gezeigt, dass es noch nicht passiert war, aber eines Nachmittags, Rachel stand gerade in der Küche und half beim Einkochen von Erdbeermarmelade, überfielen sie unvermittelt so heftige Krämpfe, dass sie sich zusammenkrümmte.

Ihre Mutter befahl ihr nachzusehen, und sie fand wirklich Blut. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch es kam nicht unerwartet, und sie war auch nicht allein. Ihre Mutter war bei ihr, tröstete sie und zeigte ihr, was sie tun musste. Alles war in Ordnung, bis ihre Mutter sie auf die Wange küsste und ihr sagte, dass sie jetzt eine Frau sei.

Rachel fing an zu weinen. Sie konnte nicht mehr aufhören. Stundenlang schluchzte sie, und nichts konnte sie trösten. Jay Geiger kam in ihr Zimmer und legte sich neben sie auf das Bett, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hatte. Er streichelte ihr über den Kopf und fragte sie, was denn los sei. Ihre Schultern zuckten so heftig, dass es ihm beinahe das Herz brach, und er musste seine Frage einige Male wiederholen. Schließlich flüsterte sie: »Papa, ich will nicht heiraten. Ich will nicht weg von euch und unserem Zuhause.«

Jay küsste sie auf die Wange und verließ sie, um sich mit seiner Frau zu besprechen. Lillian war sehr besorgt.

Viele Mädchen wurden mit dreizehn verheiratet, und sie glaubte, es sei besser für ihre Tochter, wenn sie und Jay ihrem Leben durch eine solide jüdische Verbindung eine Ordnung gaben, anstatt auf ihre törichte Angst einzugehen. Aber ihr Gatte erwiderte, als er sie geheiratet habe, sei sie bereits sechzehn gewesen, und was gut für die Mutter gewesen sei, müsse auch gut für die Tochter sein, die Zeit brauche, um erwachsen zu werden und sich mit dem Gedanken an eine Ehe anzufreunden.

So erhielt Rachel eine lange Gnadenfrist. Und sofort wurde das Leben wieder schön. Miss Burnham berichtete Jay, sie habe ein ausgesprochenes Talent zum Lernen und eine Fortsetzung der Ausbildung werde ihr von großem Nutzen sein. Die Eltern beschlossen, sie in der Schule zu lassen und nicht ganztägig zur Hausarbeit heranzuziehen, wie es üblich gewesen wäre, und die Freude und die Lebendigkeit, die nun wieder aus Rachels Augen strahlte, entschädigte sie. Rachel besaß eine angeborene Freundlichkeit, und ihr eigenes Unglück machte sie um so empfänglicher für die Leiden anderer. Den Coles stand sie so nahe, als wären sie Blutsverwandte. Als Shaman noch ein kleiner Junge war, hatte er einmal in ihrem Bett gelegen und sein Wasser nicht halten können.

Damals hatte Rachel ihn getröstet, ihm über seine Verlegenheit hinweggeholfen und ihn vor den Sticheleien der anderen Kinder bewahrt. Die Krankheit, die ihm sein Gehör raubte, hatte sie sehr beunruhigt, weil sie zum erstenmal in ihrem Leben die Existenz unbekannter und unerwarteter Gefahren spürte. Shamans Schwierigkeiten beobachtete sie mit der Zerrissenheit eines Menschen, der helfen will, aber nicht kann, und über seine Erfolge freute sie sich so, als wäre er ihr Bruder. Während sie sich entwickelte, sah sie auch Shaman sich von einem kleinen Jungen zu einem großgewachsenen Burschen verwandeln, der Alex um einiges überragte. Weil sein Körper früh heranreifte, war er in den ersten Jahren der Entwicklung oft tolpatschig und ungelenk wie ein im Wachstum begriffenes Tierjunges, und sie verfolgte das mit besonderer Zärtlichkeit. Einige Male hatte sie unentdeckt in dem Ohrensessel gesessen und Shamans Zuversicht und Hartnäckigkeit sowie Dorothy Burnhams Geschick als Lehrerin bewundert. Als Miss Burnham dann überlegte, wer Shaman helfen könne, hatte sie spontan reagiert, denn auf eine solche Gelegenheit hatte sie nur gewartet. Dr. Cole und seine Frau waren dankbar gewesen für ihre Bereitschaft, mit ihm zu arbeiten, und auch ihre Eltern hatten sich über die, wie sie es sahen, großzügige Geste gefreut. Doch sie wusste, dass sie ihm unter anderem deshalb helfen wollte, weil er ihr treuer Freund war, der ihr einst in vollem Ernst angeboten hatte, einen Mann zu töten, der ihr Böses tat.

Das Fundament des Förderunterrichts waren lange Stunden zähen, geduldigen Übens, und Shaman begann sehr bald, Rachels Autorität auf eine Art auf die Probe zu stellen, wie er es sich bei Miss Burnham nicht getraut hätte.

»Heute nicht mehr. Ich bin zu müde«, hatte er schon bei der zweiten Übungsstunde gesagt, die sie ohne Miss Burnhams Aufsicht abhielten.

»Nein, Shaman«, hatte Rachel entschlossen erwidert, »wir sind noch lange nicht fertig.«

Doch er war ihr entwischt.

Als es das zweitemal passierte, ließ sie ihrer Verärgerung freien Lauf, erntete aber nur ein Grinsen von ihm, und sie wusste sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als ihn, wie in ihrer Kinderzeit, wüst zu beschimpfen.

Als er es tags darauf schon wieder versuchte, traten ihr die Tränen in die Augen, und dagegen war er machtlos.

»Na, dann probieren wir’s eben noch mal«, sagte er widerwillig. Rachel war froh, doch sie gab der Versuchung nicht nach, ihn auf diese Art zu beeinflussen, da sie spürte, dass er von ihrer Entschlossenheit und Unerbittlichkeit mehr profitieren würde. Nach einer Weile wurden die langen Stunden für die beiden zur Routine. Shaman machte große Fortschritte, und nach einigen Monaten beherrschte er Miss Burnhams Übungen so gut, dass die beiden sich weiterführenden Aufgaben zuwenden konnten.