Lange Zeit beschäftigten sie sich mit der Technik, die Bedeutung eines Satzes durch die Verschiebung der Betonung zu verändern.
Das >Kind< ist krank.
Das Kind >ist< krank.
Das Kind ist >kränk<.
Manchmal hielt Rachel seine Hand und drückte sie bei dem Wort, das er betonen sollte, was ihm sehr gefiel. Die Übungen am Klavier mochte er inzwischen nicht mehr besonders, denn seine Mutter sah sie als Kunststück an, das sie ihn manchmal vor anderen vorführen ließ.
Doch Rachel arbeitete weiter mit ihm am Klavier, und es faszinierte sie, wenn sie die Tonleiter in einer anderen Tonart spielte, und er sogar diesen feinen Schwingungsunterschied erkennen konnte.
Mit der Zeit lernte er, nicht nur die unterschiedlichen Töne am Klavier zu erfühlen, sondern auch andere Schwingungen in seiner Umgebung zu unterscheiden. Bald konnte er wahrnehmen, dass jemand an die Tür klopfte, obwohl er das Klopfen selbst nicht hörte. Und er spürte sogar Schritte auf einer Treppe, die andere in seiner Nähe nicht einmal hörten.
Eines Tages nahm Rachel seine Hand und legte sie, wie Dorothy Burnham es getan hatte, an ihre Kehle. Zuerst sprach sie sonor mit ihm. Dann veränderte sie die Lautstärke ihrer Stimme und flüsterte nur noch. »Spürst du den Unterschied?«
Ihr Fleisch war warm und sehr glatt, zart und doch fest. Shaman spürte Muskeln und Sehnen. Er dachte an einen Schwan und dann an einen kleinen Vogel, als er ihren Puls unter seinen Fingern flattern spürte, wie er es an Miss Burnhams kräftigerem Hals nicht wahrgenommen hatte.
Er strahlte sie an. »Ja«, sagte er.
Spuren des Wassers
Niemand schoss mehr auf Rob J. Sollte der Vorfall am Stall wirklich die Mahnung gewesen sein, er müsse aufhören, weiter auf eine Wiederaufnahme von Makwas Fall zu drängen, hatte der Schütze offensichtlich Grund zu der Annahme, seine Warnung werde befolgt. Rob J. unternahm nichts Neues mehr, weil er nicht wusste, was er noch unternehmen sollte. Irgendwann erhielt er höfliche Briefe vom Kongressabgeordneten Nick Holden und vom Gouverneur von Illinois. Es waren die einzigen Offiziellen, die ihm antworteten, und ihre Briefe waren freundliche, aber unmissverständliche Absagen. Es ärgerte ihn, doch er hatte drängendere Probleme, denen er sich zuwenden musste. Anfangs bat man ihn nur sehr unregelmäßig um die Gastfreundschaft seiner Nische, doch nachdem er einige Jahre lang Sklaven bei der Flucht geholfen hatte, wurde aus dem Tröpfeln ein beständiges Strömen, und zu manchen Zeiten herrschte in seinem Versteck ein reger Wechsel.
Die Negerfrage war von allgemeinem und sehr kontroversem Interesse. Dred Scott hatte den Prozess um seine Freiheit vor einem Gericht in Missouri gewonnen, der Oberste Gerichtshof des Staates entschied jedoch, er sei weiterhin Sklave, woraufhin seine der Abschaffung der Sklaverei verschriebenen Anwälte vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten Berufung einlegten. Unterdessen lieferten sich Schriftsteller und Prediger, Journalisten und Politiker aus beiden Lagern erregte Wortgefechte. Fritz Graham begann seine fünfjährige Amtszeit nach der Wahl zum regulären Sheriff mit der Anschaffung einer Meute »Niggerhunde«, denn die ausgesetzten Belohnungen waren zu lukrativen Nebeneinkünften geworden. Es gab mehr Geld für die Ergreifung von Ausreißern, und die Strafen für die Beihilfe zur Flucht waren entsprechend härter geworden. Rob J. bekam weiterhin Angst, wenn er daran dachte, was ihm passieren könnte, falls man ihn ertappte, doch meistens verbot er sich solche Gedanken. Wenn er George Cliburn zufällig auf der Straße traf, begrüßte der ihn mit zerstreuter Höflichkeit, als würden die beiden sich nie im Dunkel der Nacht unter ganz anderen Umständen begegnen.
Sozusagen als Nebenwirkung dieser Verbindung erhielt Rob J. Zugang zu Cliburns umfangreicher Bibliothek, und er lieh sich häufig Bücher aus, die er dann Shaman mitbrachte oder manchmal auch selber las. Rob J. fand die Sammlung des Getreidehändlers zwar umfassend, was Religion und Theologie betraf, doch eher unvollständig im Hinblick auf die Naturwissenschaften, und das gleiche traf auf die Bildung ihres Besitzers zu.
Er war bereits fast ein Jahr Sklavenschmuggler, als Cliburn ihn zu einer Quäkerversammlung einlud, seine Absage allerdings verständnisvoll und beinahe eingeschüchtert akzeptierte. »Ich dachte mir, Sie würden es vielleicht hilfreich finden, da Sie doch das Werk des Herrn tun.« Rob J. wollte ihn schon korrigieren und sagen, dass er Menschenwerk tue und nicht das Werk Gottes, doch allein der Gedanke war schon schwülstig genug, und so verzichtete er darauf, ihn auszusprechen. Er lächelte deshalb nur und schüttelte den Kopf.
Er wusste natürlich, dass sein Versteck nur ein Glied in einer zweifellos sehr langen Kette darstellte, hatte aber keine Ahnung, wie das gesamte System funktionierte. Mit Dr. Barr sprach er nie darüber, dass er eigentlich auf dessen Empfehlung hin zum Gesetzesbrecher geworden war. Heimliche Kontakte unterhielt er nur mit Cliburn und dem Makler Carroll Wilkenson, der ihm jedesmal Bescheid sagte, wenn der Quäker ein »interessantes neues Buch« hatte. Rob J. war sicher, dass die Flüchtlinge nach ihrem Aufenthalt bei ihm in Richtung Norden gebracht wurden, durch Wisconsin nach Kanada. Wahrscheinlich mit einem Boot über den Lake Superior. Zumindest hätte er diese Route gewählt, wenn er die Flucht geplant hätte.
Gelegentlich brachte Cliburn auch Frauen, doch die meisten Flüchtlinge waren Männer. Trotz der sich gleichenden zerrissenen Kleider aus grobem Tuch waren sie vom Aussehen her höchst unterschiedlich. Die Haut von einigen war so tiefschwarz, dass sie ihm vorkam wie die Definition von Schwärze: das dunkel glänzende Violett reifer Pflaumen, der Gagatton verbrannter Knochen, das satte Pechschwarz eines Rabenflügels. Andere hatten eine Hautfarbe, der man die Vermischung mit der Blässe ihrer Unterdrücker ansah: Schattierungen von Milchkaffeebraun bis zur Farbe gerösteten Brotes. Überwiegend waren es große Männer mit harten, muskulösen Körpern, aber einer war ein schlanker junger Bursche mit beinahe weißer Haut und einer Nickelbrille. Er sagte, er sei der Sohn einer Hausnegerin und eines Plantagenbesitzers aus Louisiana. Er konnte lesen und war sehr dankbar, als Rob J. ihm Kerzen, Streichhölzer und alte Ausgaben der Zeitung von Rock Island gab.
Als Arzt fühlte Rob J. sich unbefriedigt, weil er die Flüchtlinge nicht lange genug hatte, um ihre körperlichen Beschwerden behandeln zu können. So hatte er auch bemerkt, dass die Brille des hellhäutigen Schwarzen viel zu stark für ihn war. Wochen nachdem der Junge ihn wieder verlassen hatte, fand Rob J. eine Brille, die ihm passender erschien. Als er das nächste Mal nach Rock Island fuhr, besuchte er Cliburn und fragte ihn, ob er die Brille weiterleiten könne, doch der Getreidehändler starrte die Augengläser nur an und schüttelte den Kopf.
»Sind Sie denn noch bei Verstand, Dr. Cole?« sagte er und wandte sich grußlos ab.
Ein anderes Mal blieb ein großer Mann mit sehr dunkler Haut drei Tage lang in dem Versteck, lange genug, um Rob vor Augen zu führen, dass der Schwarze nervös war und an Darmbeschwerden litt. Manchmal war sein Gesicht grau und eingefallen, und sein Appetit wechselte sehr. Rob war sicher, dass der Mann einen Bandwurm hatte. Er gab ihm eine Flasche Spezifikum, schärfte ihm aber ein, es erst einzunehmen, wenn er seinen Bestimmungsort erreicht habe. »Sonst sind Sie zu schwach zum Reisen, und Sie lassen eine Durchfallspur hinter sich, der jeder Sheriff im County folgen kann.«
An jeden einzelnen von ihnen würde er sich sein Leben lang erinnern. Von Anfang an konnte er ihre Ängste und ihre Gefühle gut nachvollziehen, und das lag nicht nur daran, dass er selbst einmal Flüchtling gewesen war. Er erkannte, dass er vor allem deshalb mit ihnen fühlte, weil ihm ihr Leid vertraut war, schließlich hatte er bei den Sauks ganz ähnliches erlebt.