Er hielt sich schon lange nicht mehr an Cliburns Anweisung, sie nicht auszufragen. Einige waren gesprächig, andere verschlossen. Zumindest den Namen versuchte er von jedem zu erfahren. Bis auf den Jungen mit der Brille, der sich Nero nannte, hatten fast alle anderen jüdisch-christliche Namen: Moses, Abraham, Isaac, Aaron, Peter, Paul, Joseph. Immer und immer wieder hörte er die gleichen Namen, und sie erinnerten ihn an die Geschichte, die Makwa-ikwa ihm über die biblischen Namen an der evangelischen Schule für Indianermädchen erzählt hatte. Mit den Gesprächigen verbrachte er so viel Zeit, wie ihm, ohne ein Risiko einzugehen, möglich war. Ein Mann aus Kentucky war zuvor schon einmal ausgebrochen und wieder eingefangen worden. Er zeigte Rob J. die vernarbten Striemen auf seinem Rücken. Ein anderer aus Tennessee erzählte, er sei von seinem Herrn nicht schlecht behandelt worden. Rob J. fragte ihn, warum er dann weggelaufen sei, und der Mann spitzte die Lippen und sah ihn schräg an, als suche er nach einer Antwort. »Wollt nicht aufs Jubeljahr warten«, sagte er dann.
Rob fragte Jay nach diesem Jubeljahr. Im alten Palästina ließ man, so wie es die Bibel vorschrieb, das Ackerland alle sieben Jahre brach liegen, damit es sich erholen konnte. Nach sieben solchen Brachjahren wurde das fünfzigste Jahr zu einem Jubeljahr erklärt, in dem die Sklaven ein Geschenk erhielten und freigelassen wurden.
Rob J. meinte, ein solches Jubeljahr sei immer noch besser, als Menschen in ewiger Knechtschaft zu halten, aber wohl kaum ein Höchstmaß an Menschenliebe, da fünfzig Jahre Sklaverei in den meisten Fällen länger als ein Menschenleben dauerten.
Rob J. und Jay umkreisten sich vorsichtig bei diesem Thema, denn sie wussten seit langem, wie grundverschieden ihre Meinungen waren. »Weißt du, wie viele Sklaven es in den Südstaaten gibt?« fragte Jay.
»Vier Millionen. Das entspricht einem Schwarzen auf jeden zweiten Weißen. Befrei sie, und die Farmen und Plantagen, die viele der Befreiungsanhänger hier im Norden mit Nahrung versorgen, müssen schließen. Und was willst du dann mit diesen vier Millionen Schwarzen tun? Wie sollen sie leben? Und was soll aus ihnen werden?«
»Irgendwann werden sie leben wie alle anderen auch. Wenn man ihnen eine Ausbildung ermöglicht, können sie alles werden, zum Beispiel Apotheker«, fügte Rob hinzu, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte.
Jay schüttelte den Kopf. »Du verstehst das einfach nicht. Das Überleben des Südens hängt von der Sklaverei ab.
Deshalb ist es ja sogar in den Staaten, die die Sklaverei abgeschafft haben, ein Verbrechen, einem Entlaufenen zu helfen.«
Jay hatte einen Nerv getroffen. »Erzähl mir doch nichts von Verbrechen!« erwiderte Rob. »Der afrikanische Sklavenhandel ist seit 1808 illegal, und trotzdem werden immer noch Afrikaner mit Waffengewalt in Schiffe verfrachtet, in die Südstaaten geschafft und dort meistbietend versteigert.«
»Du sprichst von einem nationalen Gesetz. Aber jeder Bundesstaat macht seine eigenen Gesetze, und die zählen.«
Rob J. schnaubte, und damit war das Gespräch beendet.
Er und Jay blieben in enger Verbindung und halfen sich gegenseitig in allen Lebensbereichen, aber die Frage der Sklaverei errichtete eine Barriere zwischen ihnen, die sie beide bedauerten. Rob war jedoch ein Mann, der eine geruhsame Unterhaltung mit einem Freund sehr schätzte, und so gewöhnte er es sich an, Trude in den Zuweg zum Konvent des heiligen Franziskus zu lenken, wann immer er in die Gegend kam.
Er konnte nicht exakt sagen, wann genau er und Mater Miriam Ferocia Freunde geworden waren. Sarah schenkte ihm noch immer die körperliche Leidenschaft, die für ihn so wichtig war wie Essen und Trinken, doch sie unterhielt sich öfter mit ihrem Pastor als mit ihrem Gatten. In seiner Beziehung zu Makwa hatte Rob erkannt, dass er auch ohne Sex ein enges Verhältnis zu einer Frau haben konnte. Das zeigte sich auch jetzt wieder an dieser Franziskanerin, einer Frau, fünfzehn Jahre älter als er, mit strengem Blick und einem ausgeprägten, von einer Haube eingerahmten Gesicht.
Bis zu diesem Frühjahr hatte er sie nur sehr unregelmäßig besucht. Der Winter war ungewöhnlich mild gewesen, was heftige Regenfälle mit sich brachte. Der Wasserstand stieg unmerklich, bis Flüsse und Bäche plötzlich kaum noch zu überwinden waren, und ab März musste der Ort dafür büßen, dass er zwischen zwei Wasserläufen lag, denn die Situation glich bereits einer Überschwemmung. Rob sah den Fluss über die Ufer des Cole-Anwesens steigen. Das Wasser breitete sich aus und spülte Makwas Schwitzhaus und das Frauenhaus weg. Ihr hedonoso-te blieb verschont, weil es auf einem kleinen Hügel stand. Auch das Farmhaus lag höher als der Flutpegel. Doch kaum war das Wasser wieder zurückgewichen, rief man Rob zum ersten Fieberpatienten. Bald darauf erkrankte eine zweite Person. Dann eine dritte. Sarah musste als Krankenschwester aushelfen, doch schon bald wuchs ihr, Rob J. und Tom Beckermann die Arbeit über den Kopf. Eines Morgens nun kam Rob zur Farm der Haskeils und fand einen zwar fiebrigen, aber bereits gebadeten Ben Haskeil vor. Zwei Nonnen kümmerten sich um ihn.
Sämtliche »braune Käfer« waren unterwegs und pflegten Kranke. Rob J. sah sofort und mit großer Erleichterung, dass sie alle ausgezeichnete Krankenschwestern waren. Allerdings traten sie immer nur paarweise auf. Sogar die Oberin pflegte mit einer Begleiterin. Als Rob bei ihr protestierte, weil er glaubte, dass es sich nur um eine Marotte handle, antwortete Miriam Ferocia ihm mit kalter Heftigkeit und machte ihm klar, dass seine Einwände nutzlos seien. Es kam ihm der Gedanke, dass sie paarweise arbeiteten, um sich gegenseitig vor den Verlockungen des Fleisches oder eines Irrglaubens zu schützen. Einige Abende später beendete er den Tag mit einer Tasse Kaffee im Konvent und fragte Miriam Ferocia, ob sie denn Angst habe, ihre Nonnen allein in ein protestantisches Haus gehen zu lassen? »Ist Ihr Glaube denn so schwach?«
»Unser Glaube ist stark. Aber auch wir brauchen Zuneigung und Trost wie alle anderen Menschen. Das Leben, das wir uns erwählt haben, ist karg. Und auch ohne zusätzliche Versuchungen grausam genug.« Er verstand. Und er nahm nun gern die Hilfe der Nonnen zu Miriam Ferocias Bedingungen an, denn ohne sie hätte er die Epidemie nicht in den Griff bekommen.
Die Bemerkung, die die Oberin nun über ihn fallenließ, troff vor Spott, wie bei ihr nicht anders zu erwarten.
»Haben Sie eigentlich keine andere Arzttasche, Dr. Cole, außer diesem schäbigen Lederding mit den Schweinsborsten?«
»Das ist mein mee-shome, mein Medizinerbündel, das die Sauks mir geschenkt haben. Die Riemen sind aus izze.
Wenn ich sie trage, kann keine Kugel mir etwas tun.«
Sie sah ihn mit weitaufgerissenen Augen an. »An unseren Retter glauben Sie nicht, aber auf den Schutz dieses indianischen Heidenzeugs vertrauen Sie?«
»Na ja, immerhin wirkt er.« Er erzählte ihr von dem Schuss, der vor seinem Stall auf ihn abgefeuert worden war.
»Sie müssen sehr vorsichtig sein«, ermahnte sie ihn, während sie ihm Kaffee nachgoss. Die Geiß, die er dem Kloster gestiftet hatte, hatte bereits zweimal geworfen, zwei männliche Tiere. Einen Bock hatte Miriam Ferocia geschickt gegen drei weitere Geißen eingetauscht, und jetzt träumte sie von einer Käsefabrikation. Doch Rob J.
musste seinen Kaffee noch immer schwarz trinken, denn sämtliche Geißen schienen beständig trächtig zu sein oder zu säugen. Also trank er ihn ohne Milch wie die Nonnen auch, und allmählich gewöhnte er sich daran. Ihre Unterhaltung wandte sich wieder ernsthaften Themen zu. Rob J. war enttäuscht, dass ihre kirchlichen Nachforschungen nichts über Ellwood R. Patterson ergeben hatten. Er habe sich einen Plan ausgedacht, vertraute er ihr an. »Wie wär’s, wenn wir es schaffen, einen Mann in den Supreme Order of the Star-Spangled Banner einzuschleusen? Vielleicht erfahren wir auf diese Weise früh genug von ihren geplanten Untaten, um sie zu verhindern.«