»Und wie wollen Sie das anstellen?«
Er hatte gründlich darüber nachgedacht. Dazu brauchte er einen im Land geborenen Amerikaner, der ihm nahestand und absolut vertrauenswürdig war. Jay Geiger schied aus, da der SSSB einen Juden aller Wahrscheinlichkeit nach abweisen würde. »Da ist mein Knecht, geboren in Vermont, ein durch und durch anständiger Mann.« Sie schüttelte besorgt den Kopf. »Dass er ein anständiger Mann ist, macht die Sache nur noch schlimmer. Mit einem solchen Vorhaben gehen Sie nämlich das Risiko ein, ihn zu opfern und auch sich selbst. Diese Männer sind extrem gefährlich.«
Er musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Und auch, dass man Alden langsam sein Alter anmerkte. Er gehörte zwar noch nicht zum alten Eisen, aber der Jüngste war er bestimmt nicht mehr. Und er trank zuviel.
»Sie müssen Geduld haben«, sagte sie sanft. »Ich werde mich noch einmal umhören. In der Zwischenzeit sollten Sie nichts unternehmen.« Sie räumte seine Tasse ab, und er wusste, dass es Zeit für ihn war, sich von dem Bischofsstuhl zu erheben und zu gehen, damit sie sich auf die Vesper vorbereiten konnte. Er nahm seinen borstigen Kugelschild und lächelte, als er den herausfordernden Blick sah, den sie seinem mee-shome zuwarf.
»Vielen Dank, Mutter Oberin«, sagte er.
Musik hören
Die schulische Ausbildung endete für die meisten Kinder in Holden’s Crossing schon nach einem oder zwei Halbjahren, wenn sie gerade genug gelernt hatten, um ein wenig lesen, etwas zusammenzählen und mit Mühe schreiben zu können. Danach begann für sie das Erwachsenenleben als Farmarbeiter. Als Alex sechzehn war, sagte er, er habe genug von der Schule. Trotz Rob J.’s Angebot, ihm eine weiterführende Ausbildung zu finanzieren, arbeitete er von da an ganztags mit Alden auf der Farm, und so waren Shaman und Rachel plötzlich die ältesten Schüler der Klasse.
Shaman erweiterte sein Wissen sehr gerne, und Rachel war froh, im gleichmäßigen Strom der Tage dahintreiben zu können, denn sie klammerte sich an die Unveränderlichkeit ihres Lebens wie an eine Rettungsleine. Dorothy Burnham war sich bewusst, welches Glück sie mit den beiden hatte; den meisten Lehrern war in ihrem Leben nicht einmal ein einziger solcher Schüler vergönnt. Sie behandelte die beiden wie einen Schatz, brachte ihnen alles bei, was sie wusste, und tat alles, um ihnen immer Neues bieten zu können. Das Mädchen war drei Jahre älter als Shaman und besaß ein umfangreicheres Wissen, doch schon bald unterrichtete sie die beiden gemeinsam. So war es ganz natürlich, dass sie miteinander viel Zeit beim Lernen verbrachten.
Waren die Schularbeiten beendet, ging Rachel sogleich zu Shamans Sprachunterricht über. Zweimal im Monat traf sich das junge Paar mit Miss Burnham, und Shaman zeigte der Lehrerin, was er gelernt hatte. Manchmal schlug Miss Burnham eine Veränderung oder eine neue Übung vor. Sie freute sich sehr über seine Fortschritte und war glücklich, dass Rachel Geiger ihm so viel helfen konnte. So vertiefte sich die Freundschaft zwischen Rachel und Shaman, und manchmal gewährten sie einander Einblicke in ihr Innenleben. Rachel erzählte ihm, wie sie es hasste, jedes Jahr zu den jüdischen Feiertagen nach Peoria fahren zu müssen, und er erregte ihr Mitgefühl, als er ihr, ohne es direkt anzusprechen, gestand, er leide unter der kühlen Behandlung durch seine Mutter. »Makwa war viel mehr eine Mutter für mich als sie, und das weiß sie auch. Es wurmt sie zwar, aber so ist es.«
Rachel war aufgefallen, dass Mrs. Cole ihren Sohn nie mit Shaman anredete, wie es alle anderen taten, sondern immer mit Robert - fast formell, so wie Miss Burnham es in der Schule tat. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass Mrs. Cole keine indianischen Wörter mochte, denn sie hatte gehört, wie Sarah ihrer Mutter erzählte, sie sei sehr froh, dass die Sauks nun endgültig verschwunden seien.
Shaman und Rachel machten Stimmübungen, wo sie auch waren, ob sie nun in Aldens Kahn auf dem Fluss trieben oder am Ufer fischten und Wasserkresse pflückten, ob sie über die Prärie wanderten oder auf der Veranda für Lillian Obst oder Gemüse putzten. Und mehrmals in der Woche übten sie an Lillians Klavier. Er konnte den Klangcharakter ihrer Stimme spüren, wenn er sie am Rücken oder am Kopf berührte, doch am liebsten legte er seine Hand auf das glatte, warme Fleisch ihrer Kehle, während sie sprach.
»Wenn ich mich nur an den Klang deiner Stimme erinnern könnte!«
»Kannst du dich an Musik erinnern?«
»Erinnern eigentlich nicht... Aber letztes Jahr am Tag nach Weihnachten habe ich Musik gehört.«
Sie starrte ihn verwundert an.
»Hab’ es geträumt.«
»Und in diesem Traum hast du die Musik wirklich gehört?«
Er nickte.
»Gesehen habe ich nur die Füße und die Beine eines Mannes; ich glaube, es waren die meines Vaters. Weißt du noch, wie uns unsere Eltern manchmal auf den Fußboden schlafen gelegt haben, während sie spielten? Deine Mutter und deinen Vater habe ich nicht gesehen, aber ich habe die Geige und das Klavier gehört. Ich weiß nicht mehr, was sie gespielt haben. Ich weiß nur noch, dass es... Musik war.« Rachel musste sich anstrengen, um ein Wort herauszubringen. »Sie mögen Mozart sehr gern, vielleicht war die Musik von ihm«, sagte sie und spielte etwas auf dem Klavier.
Doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Das sind für mich nur Schwingungen. Das andere war richtige Musik. Seitdem versuche ich immer wieder, davon zu träumen, aber es geht nicht.« Er bemerkte, dass ihre Augen strahlten, und zu seiner Verblüffung beugte sie sich vor und küsste ihn voll auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuss, und es war etwas vollkommen Neues für ihn. Fast wie eine andere Art von Musik, dachte er.
Irgendwie fand seine Hand den Weg zu ihrer Brust, und dort blieb sie, als sie aufhörten, sich zu küssen.
Vielleicht wäre alles nicht so schlimm geworden, wenn er sie gleich wieder weggezogen hätte. Aber unter seinen Fingern spürte er, fast wie die Schwingung eines Tons, das Hartwerden und die leichte Bewegung ihrer Knospe.
Er drückte, und sie holte aus und schlug ihn auf den Mund.
Der zweite Schlag landete knapp unter seinem rechten Auge. Er saß wie betäubt da und versuchte erst gar nicht, sich zu verteidigen. Sie hätte ihn töten können, wenn sie es gewollt hätte, aber sie schlug nur noch einmal zu.
Die Mitarbeit auf der Farm hatte sie kräftig gemacht, und sie schlug mit der geschlossenen Faust zu. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, aus der Nase tröpfelte Blut. Als sie davonlief, sah er, dass sie stoßweise schluchzte.
Er lief ihr in die Diele nach; glücklicherweise war niemand zu Hause. »Rachel«, rief er hinter ihr her, aber er wusste nicht, ob sie ihm antwortete, und er traute sich nicht, ihr nach oben zu folgen. Er verließ das Haus und trottete schniefend, damit er sein Taschentuch nicht mit Blut beflecken musste, zur elterlichen Farm hinüber. Auf dem Weg zum Haus lief ihm, vom Stall kommend, Alden über den Weg.
»O je! Wo hast du dir denn das geholt?«
»...beim Raufen.«
»Na, das seh’ ich. Endlich! Ich hab’ schon gedacht, Alex ist der einzige Cole mit Mumm in den Knochen. Und wie sieht der andre Halunke aus?«
»Furchtbar. Noch viel schlimmer als ich.«
»Das ist auch gut so«, sagte Alden fröhlich und ließ ihn stehen. Beim Abendessen musste Shaman eine lange Strafpredigt gegen das Raufen über sich ergehen lassen.
Am nächsten Morgen beguckten sich die Kinder in der Schule respektvoll seine Blessuren, während Miss Burnham sie absichtsvoll übersah. Während des Tages sprachen er und Rachel kaum miteinander, doch zu seiner Überraschung wartete sie nach Ende des Unterrichts wie immer vor der Tür auf ihn, und sie gingen gemeinsam in betretenem Schweigen nach Hause.