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Eines Tages gegen Ende jenes Sommers verschlug es einen Chinesen mittleren Alters, dessen Namen niemand kannte, nach Holden’s Crossing. Da ihm im Saloon die Bedienung verweigert wurde, gab er einer Prostituierten namens Penny Davis Geld, damit sie ihm eine Flasche Whiskey besorgte und ihn mit in ihre Hütte nahm, wo er am Morgen darauf in ihrem Bett starb. Sheriff Graham sagte, er wolle in seiner Stadt keine Hure, die ihren Schlitz an ein Schlitzauge verkaufe und dann an weiße Männer weiterverhökere, und er sorgte persönlich dafür, dass Penny Davis Holden’s Crossing verließ. Die Leiche des Chinesen ließ er auf einen Karren werfen und zum Leichenbeschauer bringen.

Als Rob J. an diesem Nachmittag zu seinem Schuppen ging, wartete dort Shaman auf ihn. »Hab’ noch nie einen Orientalen gesehen.«

»Der da ist aber tot. Das weißt du doch, Shaman, oder?«

»Ja, Pa.«

Rob J. nickte und öffnete die Schuppentür.

Die Leiche war mit einem Tuch bedeckt, das Rob nun wegzog und zusammengefaltet auf den alten Holzstuhl legte. Sein Sohn war blass, aber gefasst und betrachtete aufmerksam die Gestalt auf dem Tisch. Der Chinese war ein kleiner Mann, schlank, aber muskulös. Jemand hatte ihm die Augen geschlossen. Seine Hautfarbe lag zwischen der Blässe der Weißen und der rötlichen Bräune der Indianer. Seine holzigen, gelben Zehennägel hatten schon lange keine Schere mehr gesehen. Rob J. wurde unruhig, als er versuchte, sie mit den Augen seines Sohnes zu sehen.

»Ich muss mich jetzt an die Arbeit machen, Shaman.«

»Kann ich zusehen?«

»Willst du das wirklich?«

»Ja, Pa.«

Rob nahm sein Skalpell und öffnete die Brust. Oliver Wendeil Holmes hatte eine sehr extravagante Art gehabt, den Tod zu präsentieren, doch Rob J. bevorzugte einen sachlicheren, einfacheren Stil. Er warnte seinen Sohn, dass die Eingeweide eines Menschen schlimmer stänken als jedes Wild, das der Junge je ausgenommen hatte, und riet ihm, durch den Mund zu atmen. Dann wies er ihn darauf hin, dass das tote Gewebe vor ihnen kein Mensch mehr sei. »Was es auch war, das diesen Menschen lebendig gemacht hat - manche nennen es Seele -, es hat seinen Körper verlassen.«

Shamans Gesicht schien bleich, aber seine Augen waren hellwach. »Ist das der Teil, der in den Himmel geht?«

»Ich weiß nicht, wohin er geht«, sagte Rob sanft. Er wog die Organe und ließ Shaman das jeweilige Gewicht notieren, eine einfache Beschäftigung, die ihm aber wirklich die Arbeit erleichterte. »William Fergusson, mein Lehrer, hat immer gesagt, dass die Seele den Körper hinter sich lässt, wie man aus einem Haus auszieht, und dass wir den Körper deshalb aus Respekt vor dem Menschen, der in ihm wohnte, vorsichtig und mit Würde behandeln müssen. - Das hier ist das Herz, und daran ist er gestorben.« Rob nahm das Organ heraus und legte es Shaman in die Hände, damit er den dunklen Wulst toten Gewebes, der sich aus der Muskelwand herauswölbte, genau betrachten konnte.

»Was ist mit ihm passiert, Pa?«

»Das weiß ich nicht, Shaman.«

Er legte die Organe wieder in die Körperhöhle und nähte diese zu, und als sie dann gemeinsam die Instrumente wuschen, kehrte die Farbe wieder in Shamans Gesicht zurück.

Rob J. war beeindruckt, wie gut sich der Junge gehalten hatte. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Möchtest du ab und zu mit mir hier arbeiten?«

»Sehr gerne, Pa!« rief Shaman mit strahlendem Gesicht.

»Mir ist nämlich eingefallen, dass du vielleicht ein Diplom in den Naturwissenschaften machen könntest. Du könntest dir dann deinen Lebensunterhalt als Lehrkraft verdienen, vielleicht sogar an einer Universität. Würde dir das gefallen, mein Sohn?«

Shaman sah ihn ernüchtert an, und sein Gesicht verdüsterte sich wieder, als er über die Frage nachdachte. Dann hob er die Schultern.

»Vielleicht«, sagte er.

Lehrer

In diesem Januar packte Rob J. zusätzliche Decken in das Versteck, denn die Flüchtlinge aus dem tiefen Süden litten sehr unter der Kälte. Es gab zwar weniger Schnee als gewöhnlich, aber immer noch genug, um die Äcker mit einer weißen Schicht zu bedecken und sie wie winterliche Prärie aussehen zu lassen. Manchmal, wenn er mitten in der Nacht von einem Hausbesuch heimritt, stellte er sich vor, er brauche nur den Kopf zu heben, um eine lange Reihe roter Männer zu sehen, die auf guten Pferden hinter ihren Schamanen und Häuptlingen über die unberührte Ebene ritten, oder riesige, buckelige Tiere, die sich in der Dunkelheit auf ihn zubewegten, Reif auf dem zotteligen braunen Pelz und das Mondlicht auf den geschwungenen Hörnern mit den gefährlichen Spitzen.

Aber er sah nie etwas, denn er glaubte noch weniger an Geister als an Gott.

Der Frühling brachte nur wenig Schmelzwasser, und die Flüsse und Bäche blieben in ihrem Bett. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er diesmal weniger Fieberkranke zu behandeln hatte, aber aus einem anderen Grund gab es unter den Erkrankten mehr Todesfälle als gewöhnlich. Eine der Patientinnen, die er verlor, war Matilda Cowan, deren Mann Simeon auf einer Parzelle guten, wenn auch etwas trockenen Bodens im nördlichen Teil der Gemarkung Mais anbaute. Wenn eine junge Frau starb und drei Kinder hinterließ, erwartete man allgemein, dass sich der Witwer sehr schnell wieder verheiratete, doch als Cowan Dorothy Burnham um ihre Hand bat, waren viele überrascht. Sie nahm an, ohne zu zögern.

Eines Morgens erzählte Rob J. beim Frühstück Sarah lachend, dass im Schulausschuss helle Aufregung herrsche.

»Wir haben geglaubt, wir könnten uns darauf verlassen, dass Dorothy ewig Jungfer bleibt. Cowan ist schlau. Sie wird ihm eine gute Frau sein.«

»Sie hat großes Glück«, erwiderte Sarah trocken. »Ist ja um einiges älter als er.«

»Ach, Simeon Cowan ist nur drei oder vier Jahre jünger als Dorothy«, sagte Rob J. und bestrich sich ein Brötchen. »Ein so großer Unterschied ist das auch wieder nicht.« Und er grinste erstaunt, als er sah, dass sein Sohn Shaman zustimmend nickte und sich eifrig an dem Klatsch über die Lehrerin beteiligte.

An Miss Burnhams letztem Tag in der Schule trödelte Shaman, bis alle anderen Schüler das Gebäude verlassen hatten, und ging dann zu ihr, um sich zu verabschieden: »Wir werden uns ja sicher in der Stadt öfter sehen. Ich bin froh, dass Sie nicht woandershin geheiratet haben.«

»Ich bin auch froh, in Holden’s Crossing bleiben zu können, Robert.«

»Wollt’ Ihnen nur danken«, sagte er verlegen. Er wusste, was diese warmherzige, einfache Frau für sein Leben bedeutet hatte. »Ich habe es doch gern getan, mein Lieber.« Seinen Eltern hatte sie mitgeteilt, dass sie nicht mehr an seiner Aussprache arbeiten könne, da sie sich jetzt um eine Farm und drei Kinder kümmern müsse. »Ich bin aber sicher, dass ihr beide, du und Rachel, auch ohne mich ganz wunderbar zurechtkommen werdet. Außerdem bist du so weit, dass du bald keine Stimmübungen mehr brauchst.«

»Glauben Sie denn, dass meine Stimme schon so klingt wie die anderer Leute?«

»Nun ja...« Sie nahm die Frage sehr ernst. »Wenn du müde bist, hörst du dich immer noch kehlig an. Du weißt inzwischen sehr genau, wie die Worte klingen sollten, und deshalb verschleifst du die Silben nicht so, wie es viele andere tun. Einen kleinen Unterschied gibt es also schon noch.« Als sie sah, dass ihn das bekümmerte, nahm sie seine Hand und drückte sie. »Aber es ist ein sehr charmanter Unterschied«, sagte sie und freute sich, als sein Gesicht sich wieder aufhellte.

Er hatte ihr von seinem eigenen Geld in Rock Island ein kleines Geschenk gekauft: Taschentücher mit einem Rand aus hellblauer Spitze.

»Ich habe auch etwas für dich«, sagte sie und schenkte ihm einen Band mit Shakespeares Sonetten. »Wenn du sie liest, musst du an mich denken!« befahl sie ihm. »Außer natürlich bei den romantischen!« fügte sie schnippisch hinzu, und dann lachte sie mit ihm in dem Bewusstsein, als Mrs. Cowan Dinge tun und sagen zu können, von denen die arme Schullehrerin nicht einmal zu träumen gewagt hatte.