Bei dem regen Schiffsverkehr im Frühling kam es auf dem Mississippi immer wieder zu Unfällen durch Ertrinken. Ein junger Matrose fiel von einem Schleppkahn und wurde davongetrieben, die starke Strömung riss ihn in die Tiefe und gab ihn erst im Gerichtsbezirk von Holden’s Crossing wieder frei. Die Kahnbesatzung wusste nichts über ihn, außer dass er Billy geheißen hatte, und Sheriff Graham überließ ihn Rob J.
So erlebte Shaman seine zweite Autopsie. Er schrieb das Gewicht der Organe in das Notizbuch seines Vaters und erfuhr, was mit der Lunge passiert, wenn jemand ertrinkt. Doch diesmal fiel ihm das Zusehen schwerer. Der Chinese war ein Exote gewesen und viel älter als er selbst, dieser hier aber war ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als sein Bruder Bigger, und der Tod dieses Matrosen erinnerte ihn an seine eigene Sterblichkeit.
Trotzdem gelang es ihm, diesen Gedanken so weit zu verdrängen, dass er aufmerksam beobachten und lernen konnte.
Nach der Autopsie begann Rob J., von Billys rechtem Handgelenk ausgehend, zu sezieren. »Die meisten Chirurgen haben eine Heidenangst vor der Hand«, vertraute er Shaman an. »Das kommt daher, dass sie sich nie genug Zeit genommen haben, sie genau zu studieren. Wenn du ein Lehrer für Anatomie oder Physiologie werden willst, musst du die Hand kennen.«
Shaman verstand, warum viele sich fürchteten, eine Hand zu operieren, denn sie besteht nur aus Muskeln, Sehnen und Gelenken, und er war erstaunt und erschrocken, als sein Vater, nachdem er mit der rechten Hand fertig war, ihn aufforderte, die linke zu sezieren. Rob J. lächelte ihn an, er schien ganz genau zu wissen, wie sein Sohn sich fühlte. »Denk dir nichts! Egal, was du tust, ihm tut es nicht mehr weh.«
Also verbrachte Shaman fast den ganzen Tag damit, zu schneiden und zu tasten, sich die Namen all der winzigen Knochen einzuprägen und zu lernen, wie die Handgelenke eines Lebenden funktionieren.
Einige Wochen später brachte der Sheriff die Leiche einer alten Frau, die im Armenhaus des Bezirks gestorben war. Shaman freute sich schon darauf, seine Studien weiterführen zu können, doch sein Vater versperrte ihm den Weg in den Schuppen.
»Shaman, hast du schon einmal eine Frau ohne ihre Kleider gesehen?«
»... Makwa hab’ ich einmal gesehen. Sie hat mich ins Schwitzhaus mitgenommen und mir Lieder vorgesungen, damit ich mein Gehör zurückbekomme.«
Der Vater sah ihn verwundert an, fühlte sich dann aber verpflichtet, ihm seine Vorbehalte zu erklären. »Ich wollte nicht, dass die erste Frau, die du nackt siehst, alt, hässlich und tot ist.«
Shaman nickte und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Es ist nicht das erstemal, Pa. Und Makwa war nicht alt und hässlich.«
»Nein, das war sie nicht«, sagte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter. Dann gingen sie gemeinsam in den Schuppen und schlossen die Tür hinter sich.
Im Juli bot der Schulausschuss Rachel Geiger die Stelle als Lehrerin an. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine ehemalige Schülerin Gelegenheit erhielt, in ihrer Schule zu unterrichten, wenn die Stelle frei wurde, und Dorothy Burnham hatte das Mädchen in ihrem Kündigungsschreiben begeistert empfohlen. Carroll Wilkenson wies darauf hin, dass sie Rachel außerdem für ein Anfängergehalt einstellen könnten und sich nicht um ihre Unterbringung zu kümmern brauchten, da sie bei ihren Eltern wohnte.
Das Angebot brachte Verwirrung und Unentschlossenheit in den Haushalt der Geigers und führte zu einer ernsten, mit gedämpfter Stimme geführten Unterhaltung zwischen Lillian und Jay. »Wir haben es bereits zu lange hinausgeschoben«, sagte Jay. »Aber ein Jahr als Lehrerin wäre ein großer Vorteil für sie, sie könnte dann in ganz andere Kreise einheiraten. Eine Lehrerin ist etwas so typisch Amerikanisches!«
Jason seufzte. Er liebte seine drei Söhne, Davey, Herrn und Cubby. Gute, liebenswerte Jungen. Alle drei spielten Klavier wie ihre Mutter, allerdings mit unterschiedlichem Talent, und Dave und Herrn hätten gern Blasinstrumente erlernt, wenn sie nur einen Lehrer dafür gefunden hätten. Rachel war seine einzige Tochter und sein erstgeborenes Kind, dem er das Geigenspiel beigebracht hatte. Er wusste, der Tag würde kommen, an dem sie das Elternhaus verlassen musste und ihm von ihr nichts anderes blieb als seltene Briefe und noch seltenere Besuche aus einer weit entfernten Stadt.
Kein Wunder, dass er beschloss, selbstsüchtig zu sein und sie noch eine Weile länger im Schoß der Familie zu behalten. »Also gut«, sagte er zu Lillian, »dann lassen wir sie Lehrerin werden.«
Einige Zeit war vergangen, seit das Hochwasser Makwas Schwitzhaus weggespült hatte. Übriggeblieben waren nur zwei Steinwände, knapp zwei Meter lang, nicht einmal einen Meter hoch und sechs Handbreit voneinander entfernt. Im August begann Shaman, eine Kuppel aus dürren Ästen über den Mauern zu errichten. Zwischen die Äste flocht er grüne Weidenzweige, doch er stellte sich ungeschickt an, und die Arbeit ging ihm nur langsam von der Hand. Als sein Vater sah, was er vorhatte, fragte er, ob er helfen könne, und gemeinsam schafften sie es, in ihrer Freizeit innerhalb von zwei Wochen ein neues Schwitzhaus zu errichten, das in etwa jenem glich, das Makwa mit Mond und Der singend einhergeht in wenigen Stunden gebaut hatte. Aus weiteren Ästen und Weidenzweigen flochten sie einen Rost, den sie auf die Mauern legten.
Rob J. besaß ein ramponiertes Büffelfell und eine Hirschdecke. Als sie die Tierhäute über das Flechtwerk der Kuppel spannten, blieb ein großes Stück offen.
»Vielleicht eine Wolldecke?« schlug Shaman vor. »Besser zwei, eine doppelte Lage, sonst entweicht zuviel Dampf!« Am ersten kalten Tag im September probierten sie das Schwitzbad aus. Makwas Hitzesteine waren noch genau dort, wo sie sie liegengelassen hatte, und sie errichteten ein großes Holzfeuer und ließen die Steine darin sehr heiß werden. Nur in eine Decke gehüllt, betrat Shaman das Schwitzhaus, warf die Decke vor die Tür und legte sich zitternd auf den Weidenrost. Mit Hilfe von Astgabeln schleppte Rob J. die heißen Steine zum Schwitzhaus, legte sie unter den Rost, begoss sie mit kaltem Wasser und verschloss dann die Kuppel. Shaman lag im aufsteigenden Dampf, und während er spürte, wie die Hitze aufblühte, erinnerte er sich an die Angst, die er beim erstenmal verspürt hatte, als er vor der Hitze und dem nebeligen Dunkel in Makwas Arme geflüchtet war. Er erinnerte sich an die fremdartigen Zeichen auf ihren Brüsten und wie sich die Narben an seiner Wange angefühlt hatten. Rachel war dünner und größer als Makwa, hatte aber schwerere Brüste. Der Gedanke an Rachel rief eine Erektion hervor, und er fürchtete, dass sein Vater zurückkehren und ihn so sehen könne. Er zwang sich, wieder an Makwa zu denken, an die stille Zuneigung, die sie ihm entgegengebracht hatte, so tröstend und besänftigend wie die ersten warmen Schwaden des Dampfes. Es war eigenartig, in dem Schwitzhaus an der Stelle zu liegen, wo sie oft gewesen war. Die Erinnerung an sie wurde mit jedem Jahr verschwommener, und er fragte sich, warum sie hatte sterben müssen, warum es schlechte Menschen auf der Welt gab. Fast ohne es zu merken, begann er eins der alten Lieder zu singen, die sie ihm beigebracht hatte: Wi-a-ya-ni,
Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na.
Wohin du auch gehst,
Ich gehe mit dir, mein Sohn.
Einige Zeit später brachte sein Vater frische heiße Steine und übergoss sie mit Wasser, und bald füllte wieder dichtester Dampf jeden Winkel der Hütte. Shaman blieb, bis er es nicht mehr aushielt und nach Atem ringend und schweißnass dalag, dann stand er auf, lief in die Kälte hinaus und sprang in das eisige Wasser des Flusses.
Im ersten Augenblick glaubte er, er sei soeben einen sehr sauberen Tod gestorben, doch als er dann die ersten Schwimmbewegungen machte, spürte er das Blut durch seinen Körper pulsieren. Kreischend wie ein Sauk kletterte er ans Ufer und stürmte in den Stall, wo er sich kräftig abrubbelte und warme Kleidung überzog.