»Rob J.!«
»Jason!«
Auf der Werkbank lag ein zweiter Wetzstein. Rob J. nahm ihn und begann, die zweite Sense zu schärfen. »Ich habe ein Problem, das ich mit dir besprechen muss«, sagte er.
Erwachsen werden
Der letzte, zählebige Schnee des Winters überzog die Weiden noch wie eine dünne Glasur, als Rob J. mit der Planung der Frühjahrsarbeiten auf der Schaffarm begann, und zu Shamans Überraschung und Freude bezog sein Vater ihn in diesem Jahr zum erstenmal voll mit ein. Bis dahin hatte der Jüngere nur gelegentlich auf der Farm mitgeholfen und sich ansonsten ganz dem Lernen und seiner Sprechtherapie widmen können.
»Dieses Jahr brauchen wir deine Hilfe dringend«, sagte Rob J. zu ihm. »Alden und Alex wollen es zwar nicht zugeben, aber nicht einmal drei Männer schaffen die Arbeit, die Der singend einhergeht ganz alleine erledigt hat.« Außerdem, sagte er, werde die Herde jedes Jahr größer, und sie müssten immer neue Weiden einzäunen.
»Ich habe mit Dorothy Cowan und mit Rachel gesprochen. Beide haben den Eindruck, dass du alles gelernt hast, was du in unserer Schule lernen kannst. Außerdem meinen sie, dass du keine Sprechübungen mehr brauchst, und« - er grinste Shaman an - »ich muss sagen, ich bin ganz ihrer Meinung. Für mich klingt deine Aussprache ganz in Ordnung.« Rob J. fügte aber sofort hinzu, dass Shamans Mitarbeit kein Dauerzustand werden solle. »Ich weiß, dass du kein Farmer werden willst. Aber wenn du uns jetzt hilfst, können wir uns später überlegen, was du als nächstes tun sollst.« Alden und Alex übernahmen das Schlachten der Lämmer. Shamans Aufgabe war es, Zaunhecken zu säen, sobald die Erde aufgegraben werden konnte. Die üblichen Weidezäune hatten bei Schafen wenig Sinn, da die Tiere ohne Schwierigkeiten zwischen den Pfosten hindurchschlüpften, und außerdem konnten Raubtiere leicht eindringen. Um eine neue Weide einzugrenzen, pflügte Shaman am Rand entlang einen schmalen Streifen und säte Osagedorn an. Er musste vorsichtig säen, denn der Samen kostete zehn Dollar pro Kilo. Die Pflanzen wuchsen kräftig und buschig und hatten lange, spitze Dornen, die die Schafe drinnen und Kojoten und Wölfe draußen hielten. Der Osagedorn brauchte drei Jahre, um eine dichte Hecke zu bilden, aber Rob J. hatte von Anfang an solche Dornenhecken gepflanzt, und als Shaman mit der Aussaat fertig war, nahm er eine Leiter und machte sich daran, die alten zurechtzustutzen. Das Zuschneiden dauerte einige Tage, und danach musste er Steine von den Weiden auflesen, Feuerholz hacken, Zaunpfosten zurechtschneiden und dort, wo die Weiden an den Wald grenzten, Baumstümpfe ausgraben.
Seine Hände und Arme waren von den Dornen zerkratzt, seine Handflächen wurden schwielig, seine Muskeln schmerzten zuerst und wurden dann hart. Sein Körper veränderte sich, seine Stimme wurde tiefer. Nachts hatte er sexuelle Träume. Manchmal konnte er sich nicht an den Traum erinnern oder wusste nicht mehr, welche Frau darin vorgekommen war, doch einige Male hatte er nach dem Aufwachen deutlich Rachels Bild vor sich.
Zumindest einmal, das wusste er, war Makwa die Frau gewesen, was ihn verwirrte und ängstigte. Er versuchte vergeblich, die verräterischen Spuren von seinem Laken zu entfernen, bevor es in die Wäsche kam.
Jahrelang hatte er Rachel jeden Tag gesehen, jetzt sah er sie kaum noch. An einem Sonntagnachmittag ging er zu ihr hinüber, doch ihre Mutter öffnete ihm. »Rachel ist im Augenblick beschäftigt und kann dich nicht sehen. Ich soll dir viele Grüße ausrichten, Rob J.«, sagte sie nicht unfreundlich. Manchmal, wenn die Familien sich an einem Samstagabend zu Musik und Gesprächen trafen, gelang es ihm, sich neben Rachel zu setzen und mit ihr über die Schule zu reden. Er vermisste das Unterrichten und die Schüler, fragte nach ihnen und half ihr, Stunden vorzubereiten. Aber sie wirkte eigentümlich befangen.- Die Wärme und die helle Fröhlichkeit, die er an ihr immer so gemocht hatte, schienen fast erstickt - wie ein Feuer mit zuviel Holz. Wenn er einen Spaziergang vorschlug, war es, als würden die Erwachsenen im Zimmer auf Rachels Antwort lauern und sich erst entspannen, wenn sie ablehnte und sagte, sie habe im Augenblick keine Lust auf einen Spaziergang, aber vielen Dank, Shaman.
Ihre Mutter und ihr Vater hatten Rachel die Situation erklärt, hatten ihr mit viel Verständnis von der Vernarrtheit eines Jungen erzählt, ihr aber auch klargemacht, dass es ihre Aufgabe sei, diese Vernarrtheit auf keinen Fall zu ermutigen. Es fiel ihr sehr schwer. Shaman war ihr Freund, er fehlte ihr. Sie machte sich Sorgen um seine Zukunft, doch auch in ihrem Leben tat sich ein Abgrund auf, und es erforderte einen Großteil ihrer Angst und Sorge, dessen düstere Tiefen zu erkunden. Sie hätte eigentlich erkennen müssen, dass Shamans Vernarrtheit die Veränderung ihres Lebens beschleunigte, doch ihre Abneigung gegen das, was ihr bevorstand, war so stark, dass sie Johann C. Regensberg, als er für ein Wochenende zu Besuch kam, lediglich als Freund ihres Vaters betrachtete. Er war ein freundlicher, mittelgroßer und leicht übergewichtiger Mann Ende der Dreißig, der seinen Gastgeber respektvoll mit Mr. Geiger anredete, ihn aber bat, ihn Joe zu nennen.
Seine lebendigen, leicht schielenden Augen schauten durch eine Nickelbrille nachdenklich in die Welt. Sein nicht unangenehmes Gesicht war eingerahmt von einem kurzen Bart und einem schütteren, stark zurückweichenden Schöpf brauner Haare. Wenn Lillian ihn später Bekannten beschrieb, pflegte sie immer zu sagen, er habe »eine hohe Stirn«.
Joe Regensberg kam an einem Freitag auf die Farm, gerade rechtzeitig zum Sabbat-Mahl. Den Abend und den folgenden Tag verbrachte er in entspannter Atmosphäre im Kreis der Geiger-Familie. Am Samstagmorgen las er mit Jason in der Heiligen Schrift und studierte das Buch Leviticus. Nach einem kalten Mittagessen besichtigte er den Stall und die Apotheke und spazierte dann, dick eingehüllt gegen die Kälte eines trüben Tages, mit der Familie zu den Feldern, die auf die Aussaat warteten.
Die Geigers beendeten den Sabbat mit einem Cholent, einer Mahlzeit aus Bohnen, Fleisch, Perlgraupen und Dörrpflaumen, die bereits seit dem Freitagnachmittag auf heißen Kohlen schmorte, denn den Juden war es verboten, während des Sabbats ein Feuer anzuzünden. Danach gab es Musik, wobei Jason den ersten Teil einer Violinsonate von Beethoven spielte und dann das Instrument an seine Tochter weitergab. Rachel machte es Spaß, das Stück zu beenden, während der Fremde ihr mit offensichtlichem Vergnügen zusah. Am Ende des Abends ging Joe Regensberg zu seiner großen, gewirkten Reisetasche und packte Geschenke aus: einen Satz Backformen für Lillian aus der Blechwarenfabrik, die er in Chicago besaß, eine Flasche guten, alten Brandys für Jay und für Rachel ein Buch, »Die Pickwickier«.
Rachel fiel auf, dass ihre Brüder keine Geschenke erhielten. Auf einen Schlag wurde ihr die Bedeutung dieses Besuchs bewusst, Verwirrung und Angst überfielen sie. Mit Lippen, die sich steif und taub anfühlten, dankte sie Regensberg und sagte, sie schätze die Werke von Mr. Dickens, habe bis jetzt aber nur »Nickolas Nickleby«
gelesen. >»Die Pickwickier< ist eins meiner Lieblingsbücher«, sagte er. »Wir müssen uns darüber unterhalten, wenn Sie es gelesen haben.« Man konnte Joe Regensberg nicht ernsthaft als attraktiv bezeichnen, aber er hatte ein intelligentes Gesicht. Nur ein außergewöhnlicher Mann, dachte sie hoffnungsvoll, schenkt einer Frau in einer solchen Situation ein Buch.
»Ich dachte mir, es ist ein passendes Geschenk für eine Lehrerin«, sagte als könne er ihre Gedanken lesen. Sein Anzug saß besser als die Anzüge aller Männer, die sie kannte, wahrscheinlich hatte er einen besseren Schneider.
Wenn er lächelte, bekam er lustige kleine Fältchen um die Augen.
Jason hatte an Benjamin Schoenberg, den Schadchan in Peoria, geschrieben und zur Sicherheit auch noch an einen Heiratsvermittler namens Solomon Rosen in Chicago, wo es eine immer größer werdende jüdische Gemeinde gab. Schoenberg hatte in einem blumigen Brief geantwortet, er habe eine Reihe junger Männer bei der Hand, die wunderbare Gatten abgeben würden und die er den Geigers bei ihrem nächsten Besuch in Peoria vorstellen werde. Solomon Rosen dagegen hatte gehandelt. Einer seiner besten Heiratsanwärter war Johann C.