Kurz darauf stand Rob J. vor Shamans Tür und horchte auf das heisere, gutturale Schluchzen. Als er in Shamans Alter gewesen war, hatte er auch so geweint, weil seine Hündin böse und bissig geworden war und seine Mutter sie einem Häusler gegeben hatte, der alleine in den Hügeln lebte. Aber er wusste, dass sein Sohn um einen Menschen trauerte, nicht um ein Tier.
Er ging hinein und setzte sich aufs Bett. »Ich glaube, ich muss dir einiges erklären: Weißt du, es gibt nur mehr wenige Juden, und die meisten von ihnen sind umgeben von einer Menge Andersgläubiger. Deshalb glauben sie, nur überleben zu können, wenn sie wieder Juden heiraten.«
Shaman schien zuzuhören.
»Und da kommst du nicht in Frage. Du hast nie auch nur die geringste Chance gehabt.« Er strich seinem Sohn die feuchten Haare aus der Stirn und ließ die Hand auf Shamans Kopf ruhen. »Schau, sie ist eine Frau«, sagte er,
»und du bist nur ein Junge.«
Im Sommer bot der Schulausschuss, der die Chance witterte, einen wegen seiner Jugend billigen, aber doch guten Lehrer zu bekommen, Shaman die Stelle in der Schule an. Aber Shaman lehnte ab. »Was willst du denn dann tun?« fragte sein Vater. »Ich weiß es nicht.«
»In Galesburg gibt es eine höhere Schule, das Knox College«, sagte Rob J. »Man sagt, ein sehr gutes Institut.
Möchtest du weiter auf die Schule gehen? Und mal in eine andere Umgebung kommen?« Sein Sohn nickte. »Ich glaube schon«, sagte er. Und so verließ Shaman zwei Tage nach seinem fünfzehnten Geburtstag sein Zuhause.
Gewinner und Verlierer
Im September des Jahres 1858 wurde Reverend Joseph Hills Perkins zum Pfarrer der größten Baptistenkirche in Springfield berufen. Zu seiner wohlhabenden neuen Gemeinde gehörten der Gouverneur und einige Abgeordnete, und Mr. Perkins war noch mehr verblüfft über sein Glück als die Mitglieder seiner Kirche in Holden’s Crossing, die in seinem Aufstieg eine Bestätigung ihrer früheren Entscheidung sahen. Eine Zeitlang war Sarah mit der Organisation von Abschiedsessen und Abschiedsfeiern beschäftigt, und nachdem die Familie Perkins ausgezogen war, begann die Suche nach einem neuen Geistlichen. Als Kandidaten meldeten sich eine ganze Reihe von Gastpredigern, die es zu versorgen galt, und wieder gab es Streitereien und Diskussionen über die Vorzüge der einzelnen Bewerber.
Eine Zeitlang wurde ein Mann aus dem nördlichen Illinois favorisiert, ein leidenschaftlicher Prediger gegen die Sünde, doch zur Erleichterung all derer, denen sein Stil nicht gefiel - zu ihnen gehörte auch Sarah -, fiel die Entscheidung nicht auf ihn, weil er sechs Kinder hatte und seine Frau ein siebtes erwartete, das Pfarrhaus aber nur klein war. Man einigte sich schließlich auf Mr. Sydney Blackmer, einen rotwangigen Mann mit gewölbter Brust, der erst kurz zuvor in den Westen gekommen war. Mr. Blackmer machte, als Carrol Wilkenson ihn vorstellte, einen freundlichen Eindruck auf Rob J., doch der Anblick seiner Frau deprimierte den Arzt. Julia Blackmer war dünn und nervös, ihre blasse Gesichtsfarbe und der heftige Husten deuteten auf eine fortgeschrittene Lungenkrankheit hin. Während Rob sie willkommen hieß, spürte er den Blick ihres Gatten auf sich, als setze der seine ganze Hoffnung darauf, dass Dr. Cole ein sicheres Heilmittel wisse.
Holden’s Crossing,
Illinois, 12. Oktober 1858
Mein lieber Shaman,
mit großer Freude habe ich in Deinem Brief gelesen, dass Du Dich in Galesburg inzwischen eingelebt hast, Dich guter Gesundheit erfreust und Dich mit Begeisterung Deinem Studium widmest. Uns allen hier geht es gut. Alden und Alex sind mit dem Schweineschlachten fertig, und wir schwelgen in frischem Speck, Rippchen, Schulter, Schinken (gekocht, geräuchert und gepökelt), Sülze, Presskopf und Schmalz. Wie man hört, soll der neue Geistliche, was seine Predigten angeht, ein recht interessanter Kerl sein. Mut hat er, das muss man ihm lassen, denn seine erste Predigt handelte von moralischen Fragen, die die Sklaverei aufwirft, und während ihm die meisten Anwesenden zustimmten, haben doch einige (darunter Deine Mutter) nach der Kirche lautstark ihr Missfallen ausgedrückt.
Mit großem Interesse habe ich erfahren, dass Abraham Lincoln aus Springfield und Senator Douglas im Knox College debattiert haben, und ich hoffe, dass Du an der Diskussion teilnehmen konntest. Bei dieser Senatswahl werde auch ich zum erstenmal als Bürger der Vereinigten Staaten wählen dürfen, und ich weiß eigentlich nicht, welcher Kandidat der schlechtere ist. Douglas wettert zwar gegen die ignorante Engstirnigkeit der Nichtswisser-Partei, schmiert aber den Sklavenbesitzern Honig ums Maul. Lincoln verteufelt die Sklaverei, akzeptiert aber die Unterstützung der Nichtswisser, ja, er umwirbt sie richtig. Über beide ärgere ich mich sehr. Diese Politiker!
Deine Fächerwahl klingt interessant. Vergiss aber nicht, dass neben der Botanik, der Astronomie und der Physiologie auch die Poesie Geheimnisse birgt.
Vielleicht macht das Beigefügte es für Dich etwas einfacher, Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Ich freue mich schon, Dich in den Ferien wiederzusehen.
Dein Dich liebender
Vater
Shaman fehlte ihm. Seine Beziehung zu Alex war eher von Vorsicht als von Herzlichkeit bestimmt. Sarah hatte nur noch die Kirche im Kopf. Er genoss zwar das gelegentliche abendliche Musizieren mit den Geigers, doch wenn sie zu spielen aufhörten, standen die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen. So kam es immer häufiger vor, dass er am späten Nachmittag im Anschluss an seine Hausbesuche das Pferd zum Konvent der Franziskanerinnen lenkte. Mit jedem Jahr wurde ihm deutlicher bewusst, dass Mutter Miriam eher mutig war als grimmig, eher gastfreundlich als abweisend. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie eines Nachmittags und gab ihm einen Stapel brauner Papiere, bedeckt mit einer kleinen, verkrampften Handschrift in wässriger, schwarzer Tinte. Er las sie, während er auf dem Lederthron saß und seinen Kaffee trank, und erkannte sofort, dass es eine Beschreibung des inneren Aufbaus des Supreme Order of die Star-Spangled Banner war, die nur von einem Mitglied stammen konnte.
Die Beschreibung begann mit einem Überblick über die nationale Struktur dieser politischen Geheimgesellschaft. Ihre Basis bestand aus Distrikträten, die selbständig Funktionäre ernennen, Statuten erlassen und neue Mitglieder aufnehmen konnten. Über ihnen standen die County Councils, die sich aus je einem Delegierten der verschiedenen Distrikträte zusammensetzten. Die County Councils überwachten die politischen Aktivitäten der Distrikträte und wählten die Lokalpolitiker aus, die vom Geheimbund unterstützt werden sollten.
Alle Vereinigungen in einem Staat wurden von einem Grand Council kontrolliert, das aus je drei Delegierten der einzelnen Distrikträte bestand und von einer Art Großmeister und anderen gewählten Funktionären geleitet wurde. An der Spitze der gesamten Organisation stand ein Nationaler Rat, der alle politischen Entscheidungen von übergreifender Bedeutung traf, so auch die Auswahl der Kandidaten des Supreme Order für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Der Nationale Rat entschied auch über die Bestrafung von pflichtvergessenen Mitgliedern und legte die umfangreichen Rituale der Vereinigung fest.
Es gab zwei Arten der Mitgliedschaft. Um den ersten Grad zu erlangen, musste der Kandidat ein erwachsener Mann sein, der in den Vereinigten Staaten als Kind protestantischer Eltern geboren und nicht mit einer Katholikin verheiratet war.
Jedem Bewerber wurde eine einfache Frage gestellt: »Sind Sie bereit, bei Wahlen zu allen Ehren-, Vertrauens-oder bezahlten Ämtern, die das Volk zu vergeben hat, Ihren Einfluss und Ihre Stimme ohne Ansehen der Parteizugehörigkeit nur für im Lande geborene amerikanische Staatsbürger zu verwenden sowie für den Ausschluss aller Fremden, insbesondere Katholiken, aus diesen Ämtern einzutreten?« Ein Mann, der das gelobte, musste jede andere Parteizugehörigkeit aufgeben, sich dem politischen Willen des Supreme Order unterwerfen und auf eine Änderung des Einbürgerungsgesetzes hinarbeiten. Er wurde dafür in Geheimnisse eingeweiht, die in dem Bericht ausführlich beschrieben wurden: bestimmte Erkennungszeichen, eine besondere Form des Händedrucks, Codewörter und Warnsignale. Um den zweiten Grad der Mitgliedschaft zu erreichen, musste der Betreffende ein bewährtes, langjähriges Mitglied sein. Nur Kandidaten des zweiten Grades konnten Ämter innerhalb des Order bekleiden, durften an dessen geheimen Aktivitäten teilnehmen und erhielten entsprechende Unterstützung für ihre Bewerbung bei kommunalen oder nationalen Wahlen. Als Amtsträger hatten sie Anweisung, alle Ausländer, Fremden und Katholiken, die unter ihnen arbeiteten, zu entlassen und keinesfalls