Da Holden’s Crossing nicht an der Eisenbahn lag, hatte Shamans Vater ihn im Buckboard, seinen Koffer auf der Ladefläche, die zweiunddreißig Meilen bis Galesburg gefahren. Die Stadt und das College waren ein Vierteljahrhundert zuvor ursprünglich im Staate New York von Presbyterianern und Kongregationalisten geplant worden, die dann aber nach Illinois gingen und sich hier niederließen. Ihre Häuser errichteten sie entlang von Straßen, die in einem exakten Schachbrettmuster um einen zentralen Platz herum angelegt waren. Als Shaman im College eintraf, meinte Charles Hammond, der Dekan, da er jünger sei als die meisten der Kollegialen, solle er nicht im Studentenheim wohnen. Der Dekan und seine Frau nahmen selbst stets einige Studierende in ihrem weißen Holzhaus an der Cherry Street auf, und dort, in einem Zimmer im rückwärtigen Teil des ersten Stocks, fand auch Shaman Unterkunft.
Direkt vor seinem Zimmer führte eine Treppe hinunter zur Tür in den Hinterhof, wo sich das Aborthäuschen und eine Pumpe befanden. Im Zimmer rechts von ihm wohnten zwei blasse kongregationalistische Theologiestudenten, die es vorzogen, unter sich zu bleiben. In den beiden Zimmern gegenüber wohnten der kleine, aber sehr würdevolle College-Bibliothekar und ein älterer Student namens Paul Brooke, der ein sommersprossiges, fröhliches Gesicht besaß und Augen, die immer leicht erstaunt blickten. Brooke war Lateinstudent. Gleich am ersten Morgen bemerkte Shaman, dass er mit einem Cicero-Band unter dem Arm zum Frühstück kam.
Shaman hatte von seinem Vater ein recht anständiges Latein gelernt.
» lucundi acti lahores«, sagte er nun. Nach getaner Arbeit ist gut ruhn. Brookes Gesicht leuchtete auf wie eine Lampe. » Ita viva.ni, ut scio! « Wenn doch Leben und Wissen übereinstimmten! Brooke wurde zum einzigen Menschen im Haus, mit dem Shaman sich regelmäßig unterhielt, mit Ausnahme des Dekans und dessen dürrer, weißhaariger Frau, die pflichtbewusst versuchte, täglich ein paar freundliche Worte zu murmeln.
» Ave! « begrüßte Brooke ihn jeden Tag. » Quomodo te habes hodie, iuvenis? « Wie geht es dir heute morgen, mein Jüngling? » Tarn bene quamfieripossit talibus in rebus, Caesar. « Den Umständen entsprechend gut, o Caesar, erwiderte Shaman dann immer. Diese beiden Sätze wurden ihr allmorgendliches Begrüßungsritual. Beim Frühstück stahl Brooke Brötchen und gähnte ausdauernd. Nur Shaman wusste, warum. Brooke hatte in der Stadt ein Mädchen und blieb nachts oft sehr lang aus. Zwei Tage nach Shamans Einzug überredete ihn der Lateiner, ihm die Tür aufzuschließen, nachdem alle anderen zu Bett gegangen seien, damit er sich ins Haus schleichen könne. Es war ein Gefallen, den Brooke von da an sehr häufig in Anspruch nahm.
Der Unterricht begann jeden Tag um acht. Shaman belegte Physiologie, englischen Aufsatz und englische Literatur sowie Astronomie. Brooke staunte ehrfürchtig, als der Neue auch eine Prüfung in Latein ablegte.
Gezwungen, eine zusätzliche Sprache zu studieren, wählte Shaman Hebräisch statt Griechisch, aus Gründen, über die er lieber nicht nachdachte. An seinem ersten Sonntag in Galesburg nahmen der Dekan und seine Frau ihn mit in die Kirche der Presbyterianer, doch von da an sagte er den Hammonds, er sei Kongregationalist, und den Theologiestudenten, er sei Presbyterianer. Auf diese Weise hatte er jeden Sonntagvormittag Zeit, die Stadt zu erkunden. Galesburg verfügte bereits seit sechs Jahren über einen Eisenbahnanschluss, und die Schienen brachten Wohlstand und eine bunte Menschenmischung in die Stadt. Außerdem hatten erst kurz zuvor Schweden eine Genossenschaftskolonie in der Nähe aufgelöst, und ein Großteil von ihnen war nach Galesburg gezogen.
Shaman gefielen die schwedischen Mädchen und Frauen mit ihren strohblonden Haaren und der makellos hellen Haut sehr. Wenn er Vorkehrungen traf, um Mrs. Hammonds Laken nachts nicht zu beflecken, waren die weiblichen Wesen seiner Phantasie Schwedinnen. Einmal erschrak er auf der South Street beim Anblick einer dunkelhaarigen Frau, denn er war sicher, dass er sie kannte, und einen Augenblick lang konnte er kaum atmen.
Aber dann stellte sich heraus, dass diese Frau eine Fremde war. Sie schenkte ihm ein Lächeln, als sie seinen Blick bemerkte, doch er senkte den Kopf und eilte davon. Sie war mindestens zwanzig, und er wollte sich nicht mit älteren Frauen einlassen.
Er sehnte sich nach zu Hause und nach Liebe, doch diese Sehnsucht legte sich und störte ihn bald nicht weiter.
Wegen seiner Jugend und seiner Taubheit fand er keine Freunde, was sich freilich in guten Noten auswirkte, da er die meiste Zeit studierte. Seine Lieblingsfächer waren Astronomie und Physiologie, obwohl letztere ihn enttäuschte, da der Unterricht fast nur in der Aufzählung von Körperteilen bestand. An die Beschreibung der Körperfunktionen wagte sich Mr. Rowell, der Lehrer, nur einmal bei einer Vorlesung über die Verdauung und die Bedeutung der Regelmäßigkeit. Aber im Physiologiehörsaal war ein zusammengedrahtetes Skelett an einer Schraube in seiner Schädeldecke aufgehängt, und Shaman brachte Stunden alleine mit ihm zu und prägte sich den Namen, die Form und die Funktion jedes alten, ausgebleichten Knochens ein.
Galesburg war eine hübsche Stadt. Die Straßen säumten Ulmen, Ahorn- und Walnussbäume, die die ersten Siedler gepflanzt hatten. Die Bewohner waren auf drei Dinge besonders stolz: In ihrer Stadt hatte Harvey Henry May einen selbstschärfenden Stahlpflug erfunden; ein Galesburger namens Olmsted Ferris hatte gutes Popcorn entwickelt, das er sogar in England vor Queen Victoria aufplatzen lassen durfte, und Senator Douglas sowie sein Gegner Lincoln debattierten am 7. Oktober 1858 im College.
Shaman ging an diesem Abend in die Aula, um die Debatte zu verfolgen, doch die Halle war bereits so voll, dass nur noch Plätze frei waren, von denen aus er die Lippen der Kandidaten nicht hätte sehen können. So verließ er die Aula und stieg zum Dachboden hoch, wo sein Astronomielehrer, Professor Gardner, ein kleines Observatorium unterhielt. Hier sollte jeder Student einige Stunden pro Monat den Himmel beobachten, und an diesem Abend hatte Shaman den ganzen Stolz des Professors, ein Alvan-Clark-fünf-Zoll-Fernrohr, für sich alleine. Er stellte das Teleskop ein, und die Sterne sprangen ihn förmlich an, zweihundertmal größer als noch einen Augenblick zuvor. Es war eine kalte Nacht und der Himmel so klar, dass man die Ringe des Saturn erkennen konnte. Shaman betrachtete den Orion- und den Andromeda-Nebel und begann dann, das Fernrohr auf seinem Stativ zu bewegen und den Himmel abzusuchen. »Den Himmel fegen«, pflegte Professor Gardner das zu nennen und zu erzählen, eine Frau namens Maria Mitchell habe beim Himmelfegen einen Kometen entdeckt und sich damit unsterblichen Ruhm erworben. Shaman entdeckte keinen Kometen. Er beobachtete die Sterne, bis sie in ihrer funkelnden Größe vor seinen Augen zu tanzen begannen. Was hatte sie wohl geformt da oben, da draußen? Und die Sterne dahinter? Und dahinter?
Er spürte, dass jeder Stern und jeder Planet der Teil eines komplizierten Systems ist wie ein Knochen in einem Skelett oder ein Tropfen Blut in einem Körper. Die ganze Natur schien so organisiert zu sein, so durchdacht: geordnet und doch höchst kompliziert. Was hatte sie so werden lassen? Mr. Gardner hatte Shaman gesagt, um Astronom zu werden, brauche er nur gute Augen und mathematisches Talent. Ein paar Tage lang war er versucht gewesen, die Astronomie zu seiner Lebensaufgabe zu machen, dann aber hatte er sich anders entschieden. Der Anblick der Sterne war faszinierend, doch man konnte nichts anderes tun als sie beobachten. Wenn so ein Himmelskörper aus der Bahn geriet, gab es keine Hoffnung, das zu korrigieren.
Als Shaman an Weihnachten heimfuhr, kam ihm Holden’s Crossing irgendwie anders vor als früher, einsamer als sein Zimmer im Haus des Dekans, und am Ende der Ferien kehrte er gerne wieder ins College zurück. Er freute sich sehr über das Messer, das sein Vater ihm geschenkt hatte, und kaufte sich einen kleinen Schleifstein und ein Fläschchen Öl, um die Klingen zu schärfen, bis sie mühelos ein Haar durchtrennten.