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Im zweiten Semester belegte er Chemie statt Astronomie. Der englische Aufsatz machte ihm Schwierigkeiten.

Sie haben bereits mehr als einmal geschrieben, kritzelte sein Englischlehrer schlecht gelaunt in Shamans Heft, dass Beethoven viele seiner Werke als Tauber komponiert hat. Professor Gardner lud ihn ein, das Fernrohr zu benutzen, so oft er wolle, doch eines Abends vor einer Chemieprüfung suchte er den Himmel ab, anstatt Berzelius’ Atomgewichtetabelle auswendig zu lernen, und bekam eine schlechte Note. Daraufhin vernachlässigte er die Himmelsbeobachtung, wurde dafür aber sehr gut in Chemie. In den Osterferien, die er wieder in Holden’s Crossing verbrachte, luden die Geigers die Coles zum Essen ein, und Jasons Interesse an Chemie machte für Shaman diese unangenehme Begegnung etwas erträglicher, denn Jay erkundigte sich eingehend nach diesem Fach. »Was willst du denn eigentlich mal werden, Shaman?« fragte Jay.

»Ich weiß es noch nicht. Ich habe mir gedacht... vielleicht irgend etwas Naturwissenschaftliches.«

»Wenn du dich für Pharmazie interessierst, würde ich dich sehr gerne als Lehrling nehmen.«

Shaman sah an der Miene seiner Eltern, dass sie das Angebot freute, er dankte Jay deshalb unbeholfen und sagte, er werde es sich überlegen. Aber er wusste bereits, dass er kein Apotheker werden wollte. Danach sah er eine Zeitlang nur auf seinen Teller und verpasste dadurch einen Teil der Unterhaltung, doch als er aufblickte, bemerkte er, dass Lillians Gesicht von Kummer überschattet war. Sie erzählte seiner Mutter, dass Rachels Kind in fünf Monaten hätte zur Welt kommen sollen, und danach unterhielten sie sich eine Weile über das Leid der Frauen, die ein Kind verlieren.

In den Sommerferien arbeitete er auf der Farm und las Philosophiebücher, die er sich von George Cliburn auslieh. Im neuen Schuljahr erlaubte der Dekan ihm, Hebräisch abzulegen, und er belegte Kurse über Shakespeares Dramen, fortgeschrittene Mathematik, Botanik und Zoologie. Nur einer der beiden Theologiestudenten war ans College zurückgekehrt, doch Brooke ebenfalls, mit dem er sich weiterhin nach Römerart unterhielt, um im Lateinischen in Übung zu bleiben. Professor Gardner, sein Lieblingslehrer, unterrichtete auch Zoologie, doch war er ein besserer Astronom als Biologe. Sie sezierten nur Frösche, Mäuse und kleine Fische und zeichneten eine Unmenge schematischer Darstellungen. Shaman besaß nicht das künstlerische Talent seines Vaters, aber dank seiner in Makwas Nähe verbrachten Kindheit hatte er einen Vorsprung in Botanik, und er schrieb seine erste Arbeit über die Anatomie der Blumen.

In diesem Jahr schlug die Auseinandersetzung über die Sklaverei im College hohe Wellen. Zusammen mit anderen Studenten und Fakultätsangehörigen trat Shaman in die Society for the Abolition of Slavery ein, die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei. Aber es gab auch viele am College und in der Stadt, die mit den Südstaaten sympathisierten, und manchmal entwickelte sich die Diskussion zu einem hässlichen Streit.

Meistens ließ man Shaman in Ruhe. Die Studenten und die Leute aus der Stadt hatten sich an ihn gewöhnt, doch für die Unwissenden und die Abergläubischen war er zu einem Geheimnis, ja zu einer Legende geworden. Sie wussten nichts über Taubheit und verstanden nicht, dass Taube ihre Behinderung mit anderen Sinnen kompensieren können. Dass er stocktaub war, hatten sie sehr schnell herausgefunden, aber einige glaubten, dass er geheime Kräfte besitze, da er, wenn er alleine studierte und jemand leise hinter ihm ins Zimmer trat, immer dessen Anwesenheit spürte. Sie sagten, er habe »Augen am Hinterkopf«, denn sie begriffen nicht, dass er die Schwingungen der Schritte und den Luftzug einer geöffneten Tür spüren und das Erzittern der Blätter in seiner Hand sehen konnte. Er war froh, dass sie nichts von seiner Fähigkeit wussten, die Töne eines Klaviers zu unterscheiden. Er wusste, dass sie ihn manchmal »den eigenartigen tauben Jungen« nannten.

An einem warmen Montagnachmittag Anfang Mai spazierte er durch die Stadt und besah sich die Blumen, die in den Vorgärten sprossen, als an der Kreuzung South Street und Cedar Street ein vierspänniges Lastfuhrwerk zu schnell um die Kurve bog. Das Donnern der Hufe und das klägliche Jaulen blieben ihm zwar erspart, doch er sah, wie ein kleines pelziges Ding gerade noch den Vorderrädern ausweichen konnte, dann aber vom rechten Hinterrad erfasst wurde. Der Hund wurde beinahe eine ganze Umdrehung mitgeschleift, bevor er wieder freikam. Das Lastfuhrwerk ratterte davon, der Hund jedoch blieb zappelnd im Straßenstaub hegen. Shaman lief zu dem Tier.

Es war eine unscheinbare gelbliche Hündin mit Stummelbeinen und einem Schwanz mit einer weißen Spitze.

Shaman meinte, Spuren eines Terriers in ihr zu erkennen. Sie lag zuckend auf dem Rücken, ein dünnes rotes Rinnsal lief ihr aus dem Maul.

Ein Paar kam dazu und betrachtete sich das Tier. »Abscheulich«, sagte der Mann. »Diese verrückten Kutscher!

Es hätte leicht auch einen von uns treffen können.« Er streckte warnend die Hand aus, als Shaman sich zu dem Hund hinunter bückte. »Ich würde das nicht tun. Er hat sicher Schmerzen und wird sie beißen.«

»Wissen Sie, wem er gehört?« fragte Shaman.

»Nein«, antwortete die Frau.

»Ist doch nur ein Straßenköter«, sagte der Mann und ging mit seiner Frau weiter.

Shaman kniete sich hin und streichelte den Hund vorsichtig, und der leckte ihm die Hand. »Armes Tier«, sagte Shaman. Er untersuchte alle vier Beine und konnte keinen Bruch feststellen, wusste aber, dass die Blutung ein schlechtes Zeichen war. Trotzdem zog er nach einem Augenblick des Zögerns seine Jacke aus und wickelte den Hund darin ein. Er nahm das Tier in den Arm wie ein Kleinkind oder ein Wäschebündel und trug es zum Haus des Dekans. Da niemand zu den Fenstern heraussah, konnte er es unbemerkt in den Hinterhof bringen. Auch auf der Treppe begegnete ihm niemand. In seinem Zimmer setzte er den Hund auf dem Boden ab und räumte Unterwäsche und Socken aus der untersten Schublade der Kommode. Aus dem Schrank im Gang holte er einige Putzlappen, polsterte damit die Schublade aus und legte den Hund hinein. Als er seine Jacke untersuchte, sah er, dass nur sehr wenig Blut an ihr war, und das auch nur an der Innenseite.

Die Hündin lag hechelnd in der Schublade und sah ihn an. Als es Zeit zum Abendessen war, verließ Shaman das Zimmer. Im Gang sah Brooke verwundert zu, als er seine Tür abschloss, denn das war höchst ungewöhnlich, wenn man das Haus nicht verließ. » Quid vis? « fragte Brooke.

» Condo parvam catulam in meo cubiculo. «

Brooke riss erstaunt die Augen auf. »Du hast...«, er traute seinen Lateinkenntnissen nicht mehr, »... ein kleines Weibchen in deinem Zimmer versteckt?«

» Sic est. «

»Mann!« rief Brooke ungläubig und klopfte Shaman auf die Schulter. Zum Abendessen gab es, da Montag war, Reste vom Sonntagsbraten. Shaman steckte ein paar kleine Scheiben von seinem Teller in die Tasche, wobei Brooke ihm interessiert zusah. Als Mrs. Hammond in die Küche ging, um sich um die Nachspeise zu kümmern, nahm Shaman eine halbe Tasse Milch und verließ, unbemerkt vom Dekan, der mit dem Bibliothekar in ein Gespräch über das Bücherbudget vertieft war, den Tisch.

Die Hündin hatte nicht das geringste Interesse an dem Fleisch, und auch die Milch mochte sie nicht. Shaman benetzte den Finger mit Milch und legte ihn ihr auf die Zunge, wie er es bei mutterlosen Lämmern machte, und brachte das Tier so dazu, ein wenig Nahrung aufzunehmen.

Die nächsten Stunden verbrachte er über seinen Büchern. Am späten Abend streichelte und hätschelte er den matten Hund. Die Schnauze war heiß und trocken. »Schlaf jetzt, mein kleines Mädchen!« sagte er und blies die Lampe aus. Es war ein eigenartiges Gefühl, ein lebendes Wesen im Zimmer zu haben, aber es gefiel ihm.

Am nächsten Morgen ging er sofort zu dem Hund und befühlte die Schnauze. Sie war kalt, und auch der Körper war kalt und steif. »Aus«, sagte Shaman traurig.