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»Alden bekommt einen Anfall, wenn er das sieht.«

»Sag ihm, ich hab’ sie ausgetrunken.«

»Nö. Der glaubt das doch nie«, sagte Alex und setzte die Flasche an die Lippen, um die letzten Tropfen herauszusaugen.

In diesem Herbst regnete es sehr stark. Die Regengüsse überzogen das Land auch noch im Winter mit schweren, silbrigen Vorhängen, doch dazwischen gab es immer wieder schöne Tage, so dass die Flüsse zwar anschwollen und donnernd durch ihr Bett stürzten, aber nicht über die Ufer traten. Die zunächst aufgehäufte Erde über Vickys Grab setzte sich, bis die Stelle von der Umgebung nicht mehr zu unterscheiden war.

Rob J. kaufte für Sarah einen grobknochigen, grauen Wallach. Sie nannten ihn Boss, doch wenn Sarah im Sattel saß, war klar, wer der Boss war.

Rob J. sagte, er wolle die Augen offenhalten nach einem passenden Pferd für Alex. Alex war ihm ehrlich dankbar, denn mit seiner Sparsamkeit war es nicht weit her, und das wenige, das er beiseite legen konnte, war für ein Jagdgewehr reserviert.

»Es kommt mir so vor, als würde ich mich mein ganzes Leben lang nach irgendeinem Pferd umsehen«, sagte Rob J., erwähnte dabei aber nicht, dass er auch nach einem Pferd für Shaman Ausschau halten wollte.

Jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag kam der Postsack aus Rock Island nach Holden’s Crossing. Kurz vor Weihnachten begann Shaman, gespannt auf jede Lieferung zu warten, doch erst in der dritten Februarwoche kamen die ersten Antworten. An diesem Dienstag erhielt er die ersten, fast unhöflich knappen Absagen, eine vom Medical College of Wisconsin, die andere von der medizinischen Fakultät der University of Louisiana. Am Donnerstag erhielt er einen dritten Brief, der ihn darüber aufklärte, dass sein Bildungsstand und seine allgemeinen Voraussetzungen zwar exzellent seien, dass aber das »Rush Medical College of Chicago keine Einrichtungen für Taube« habe.

Einrichtungen? Glaubten die vielleicht, man müsse ihn in einen Käfig sperren?

Sein Vater wusste, dass Post gekommen war, und an Shamans beherrschtem Verhalten merkte er, dass es Ablehnungen gewesen waren. Shaman wollte von seinem Vater nicht mitleidig mit Samthandschuhen angefasst werden, und der tat es auch nicht. Die Absagen schmerzten, doch in den folgenden sieben Wochen kamen keine weiteren Briefe, und das war Shaman vorerst nicht unrecht.

Rob J. hatte Shamans Aufzeichnungen über die Obduktion des Hundes gelesen und fand sie vielversprechend, wenn auch etwas naiv. Er bot Shaman seine eigenen ärztlichen Unterlagen zur Lektüre an, damit er das Abfassen anatomischer Beschreibungen besser lernte, und Shaman las, sooft er dazu Zeit fand, in den Papieren seines Vaters. Durch Zufall stieß er dabei auch auf den Autopsiebericht über Makwa-ikwa. Es war ein eigenartiges Gefühl, das zu lesen, denn er wusste, während die in dem Bericht aufgezählten Entsetzlichkeiten passierten, hatte er als kleiner Junge ganz in der Nähe des Tatorts geschlafen. »Sie wurde ja vergewaltigt! Ich wusste zwar, dass sie ermordet...«

»Vergewaltigt und anal missbraucht. Aber das erzählt man doch einem kleinen Jungen nicht!« sagte sein Vater.

Das stimmte natürlich.

Wie gebannt las Shaman den Bericht mehrere Male. Elf Stichwunden, die in unregelmäßiger Linie vom jugulum am Sternum entlang bis zu einer Stelle etwa zwei Zentimeter unterhalb des Sternfortsatzes verliefen... Dreieckige Wunden, zwischen 0,947 und 0,952 Zentimeter breit. Drei davon im Herzen, 0,887 Zentimeter und 0,799

Zentimeter... die dritte 0,803 Zentimeter. »Warum sind die Wunden unterschiedlich breit?«

»Weil die Waffe offensichtlich vorne spitz zulief. Je heftiger der Stoß, desto größer die Wunde.«

»Glaubst du, dass man den Schuldigen je finden wird?«

»Nein, glaube ich nicht«, erwiderte sein Vater. »Höchstwahrscheinlich waren es drei. Lange Zeit habe ich überall nach einem Mann namens Ellwood R. Patterson gesucht. Aber der ist spurlos verschwunden. Vermutlich war es ein falscher Name. Ein Mann namens Cough war bei ihm. Aber auch von dem konnte ich nirgends eine Spur finden. Dann war da noch ein junger Kerl mit einem großen Muttermal im Gesicht und einer Gehbehinderung. Ich werde jedesmal ganz nervös, wenn ich einen Hinkenden oder einen mit einem Mal im Gesicht sehe. Doch bisher habe ich nur Leute gefunden, die entweder das Mal hatten oder hinkten. Nie beides.

Die Behörden waren nicht daran interessiert, sie zu ergreifen, und jetzt...« Er zuckte mit den Achseln. »Zu viel Zeit ist vergangen, es ist Jahre her.« Shaman glaubte zu merken, dass seinem Vater nur noch eine stille Trauer geblieben war und dass Zorn und Leidenschaft längst ausgebrannt waren.

Eines Tages im April ritten Shaman und sein Vater am katholischen Konvent vorbei. Rob J. lenkte Trude auf den Zuweg, und Shaman folgte ihm etwas verwundert auf Boss.

Als sie das Gebäude betraten, bemerkte Shaman, dass einige Nonnen seinen Vater mit Namen begrüßten und ganz und gar nicht überrascht schienen, ihn zu sehen. Rob stellte ihm Miriam Ferocia vor, die offensichtlich die Leiterin des Klosters war. Sie bot ihnen Plätze an, seinem Vater einen wuchtigen Ledersessel und ihm einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne unter einem Kruzifix, von dem Jesus traurig herabblickte. Eine Nonne brachte ihnen guten Kaffee und warmes Brot.

»Ich muss wohl den Jungen öfters mitbringen«, sagte sein Vater zur Mutter Oberin. »Sonst bekomme ich nämlich kein Brot zum Kaffee.« Shaman erkannte, dass sein Vater ein Mann von überraschender Vielseitigkeit war und dass er ihn vermutlich nie ganz verstehen würde. Shaman hatte gesehen, dass die Nonnen gelegentlich Patienten seines Vaters pflegten und dabei immer paarweise auftraten. Rob J. und die Oberin sprachen kurz über einige Fälle, doch schon bald wandte sich die Unterhaltung der Politik zu, und es wurde deutlich, dass der Besuch privat und rein freundschaftlich war. Rob J. sah zum Kruzifix hinauf. »Die >Chicago Tribune< zitiert Ralph Waldo Emerson mit den Worten, John Brown habe seinem Galgen eine Glorie verliehen, als handle es sich um ein Kreuz«, sagte er.

Miriam Ferocia erwiderte, dass Brown, ein abolitionistischer Eiferer, der gehenkt worden war, weil er in West Virginia ein Waffenlager der Vereinigten Staaten geplündert hatte, für alle Gegner der Sklaverei inzwischen zum Märtyrer geworden sei. »Aber die Sklaverei ist nicht der eigentliche Grund für die Probleme zwischen Nord und Süd. Die Wirtschaft ist der eigentliche Grund. Der Süden verkauft seine Baumwolle und seinen Zucker an England und die übrigen europäischen Staaten, und er kauft Fertigwaren von diesen Ländern anstatt vom industrialisierten Norden. Der Süden ist der Überzeugung, dass er die übrigen Vereinigten Staaten nicht braucht.

Trotz Mr. Lincolns Reden gegen die Sklaverei liegt hier das eigentliche Problem.«

»Mit Wirtschaft kenne ich mich nicht aus«, sagte Shaman nachdenklich. »Ich hätte das Fach dieses Jahr belegt, wenn ich wieder aufs College gegangen wäre.«

Als die Nonne fragte, warum er denn nicht nach Galesburg zurückgekehrt sei, gestand ihr sein Vater, dass Shaman suspendiert worden war, weil er einen Hund seziert hatte.

»Ach, du meine Güte! War er wenigstens schon tot?« fragte sie. Nachdem sie ihr versichert hatten, dass das der Fall gewesen sei, nickte sie zufrieden. »Ja, dann ist es ja in Ordnung. Ich habe auch nie Wirtschaft studiert. Das liegt mir im Blut. Mein Vater hat als Schreiner damit begonnen, Heuwagen zu reparieren. Heute besitzt er ein Wagenbauwerk in Frankfurt und eine Kutschenfabrik in München.« Sie lächelte. »Mein Vater heißt Brotknecht.

Der Name geht zurück auf meine Vorfahren im Mittelalter, die Bäcker waren. In Baden, wo ich Novizin war, gab es aber einen Bäcker, der ausgerechnet Wagenknecht hieß.«

»Was hatten Sie für einen Vornamen, bevor Sie Nonne wurden?« fragte Shaman. Als er sah, dass sie zögerte und sein Vater die Stirn runzelte, wusste er, dass die Frage unhöflich war, doch Miriam Ferocia beantwortete sie ihm trotzdem: »Als ich noch der Welt angehörte, hieß ich Andrea.« Sie stand auf und holte ein Buch vom Regal.