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»Das interessiert dich vielleicht«, sagte sie. »Es ist von David Ricardo, einem englischen Ökonomen.«

In dieser Nacht blieb Shaman lange wach, um das Buch zu lesen. Einiges darin war schwierig zu verstehen, doch er begriff, dass Ricardo für den freien Handel zwischen den einzelnen Staaten eintrat, und das war etwas, worauf auch die Südstaaten bestanden. Als er schließlich einschlief, sah er Christus am Kreuz. In seinem Traum verfolgte er, wie die lange, gebogene Nase kürzer und breiter wurde. Die Haut wurde dunkler und röter, die Haare färbten sich schwarz. Weibliche Brüste entwickelten sich, mit dunklen Warzen und runenähnlichen Symbolen. Die Stigmata erschienen. Im Schlaf wusste Shaman, ohne zu zählen, dass es elf Wunden waren, und während er hinsah, quoll Blut aus ihnen, das am Körper hinablief und schließlich von Makwas Füßen tropfte.

Briefe und Notizen

Neunundvierzig Lämmer warfen die Mutterschafe der Coles im Frühjahr 1860, und die ganze Familie half bei den schwierigen Geburten und anschließend beim Kastrieren mit. »Die Herde wird jedes Frühjahr größer«, sagte Alden zu Rob J. mit einer Mischung aus Stolz und Besorgnis. »Sie werden sich überlegen müssen, was wir mit der Menge anfangen sollen.«

Viele Möglichkeiten hatte Rob J. nicht. Schlachten konnten sie nur einige wenige. Ihre Nachbarn hatten kaum Bedarf an zusätzlichem Fleisch, denn die züchteten ihre eigenen Tiere, und bevor man es zum Verkauf in die Stadt bringen konnte, verdarb das Fleisch. Lebendige Tiere konnten transportiert und verkauft werden, aber das war kompliziert und erforderte Zeit, Arbeit und Geld. »Insgesamt gesehen, bringt die Wolle am meisten ein«, sagte Rob J. »Das beste wird es sein, wir behalten die Tiere und verkaufen ihre Wolle, so wie es meine Familie in Schottland immer getan hat.«

»Hm. Dann werden wir mehr Arbeit haben als je zuvor. Und dann werden wir wohl eine Hilfe brauchen«, sagte Alden verlegen, und Shaman fragte sich, ob Alex ihm wohl anvertraut hatte, dass er davonlaufen wolle. »Doug Penfield wäre bereit, stundenweise für Sie zu arbeiten. Hat er mir selber gesagt.«

»Glauben Sie, dass er ein guter Arbeiter ist?«

»Sicher ist er das, er kommt aus New Hampshire. Das ist zwar nicht ganz so, als würd’ er aus Vermont kommen, aber fast so gut.« Rob J. stimmte ihm bei, und Doug Penfield wurde eingestellt.

In diesem Frühjahr freundete sich Shaman mit Lucille Williams an, der Tochter des Hufschmieds Paul Williams.

Lucille hatte einige Jahre lang die Schule in Holden’s Crossing besucht und bei Shaman das Rechnen gelernt.

Inzwischen war sie eine junge Frau geworden. Ihre blonden Haare, die sie zu einem großen Knoten zusammengebunden hatte, waren zwar fahler als die weizenblonden Mähnen der schwedischen Mädchen seiner Träume, aber sie hatte ein hübsches Gesicht und lachte gern. Sooft er sie im Ort traf, blieb er stehen, um sich mit ihr wie mit einer alten Freundin zu unterhalten und sie nach ihrer Arbeit zu fragen. Lucille teilte ihre Zeit zwischen der Pferdebetreuung im Mietstall ihres Vaters und der Mithilfe in Roberta’s Women’s Wear, dem Damenbekleidungsgeschäft ihrer Mutter an der Hauptstraße. Diese Aufteilung gewährte ihr eine gewisse Unabhängigkeit und Freiheit, denn wenn sie in einem Geschäft fehlte, nahm der betroffene Elternteil an, dass sie im anderen arbeite. Als Lucille deshalb Shaman bat, ihr am folgenden Tag um zwei Uhr nachmittags etwas Landbutter zu bringen, war er nervös und aufgeregt.

Sie schärfte ihm ein, sein Pferd vor den Geschäften an der Hauptstraße festzubinden, an der Ecke in die Illinois Avenue einzubiegen und hinter der hohen Fliederhecke, damit man ihn nicht sähe, durch den Garten der Reimers zu schleichen. Über den Lattenzaun in den Hinterhof der Williams und von dort bis zur Hintertür sei es dann ein kurzer Weg.

»Damit die Nachbarn nicht... du weißt schon, auf falsche Gedanken kommen«, sagte sie und senkte den Blick.

Es überraschte ihn nicht, schließlich hatte Alex ihr schon im Jahr zuvor Butter geliefert und ihm dann entsprechend berichtet, aber er hatte gewisse Bedenken: Er war ja nicht Alex.

Am nächsten Tag, der Flieder der Reimers stand in voller Blüte, war der Zaun leicht zu überklettern, und die Hintertür öffnete sich schon nach seinem ersten Klopfen. Lucille war voll überschwenglichen Lobs, wie hübsch die Butter in Tücher eingewickelt sei, die sie zusammenfaltete und mit dem Teller auf den Tisch legte, bevor sie die Butter in den kalten Keller brachte. Danach nahm sie Shaman bei der Hand und führte ihn in ein Zimmer neben der Küche, das offensichtlich Roberta Williams’ Anprobierzimmer war. In einer Ecke lehnte ein halber Ballen Schürzenstoff, auf einem langen Regal lagerten ordentlich aufgerollt Seide, Satin, Drillich und Baumwollgewebe. Neben einem großen Rosshaarsofa stand eine Schneiderpuppe aus Draht und Stoff, die, wie Shaman überrascht und fasziniert feststellte, Hinterbacken aus Elfenbein besaß.

Sie bot ihm ihren Mund für einen einzigen, langen Kuss dar, und dann zogen sich beide rasch aus, wobei sie ihre Kleider in zwei beinahe pedantisch ordentliche Stapel nebeneinander legten, die Strümpfe brav in den Schuhen.

Mit dem Blick des Anatomen bemerkte er, dass ihr Körper nicht gut proportioniert war: Die Schultern waren schmal und hängend, die Brüste nicht mehr als zwei kaum aufgegangene Eierkuchen mit je einem kleinen Sirupklecks und einer bräunlichen Beere in der Mitte, die untere Körperhälfte dagegen war mit ihren breiten Hüften und dicken Schenkeln viel schwerer. Als sie sich umdrehte, um ein grauweißes Laken über das Sofa zu werfen (»Das Rosshaar kratzt so!«), sah er, dass die Kleiderpuppe nicht für Lucilles Röcke gedacht sein konnte, denn dazu hätte sie ausladender geformt sein müssen. Als er dann soweit war, gab es kein Problem. Sie machte es ihm leicht, und er hatte von Alex und anderen schon so viele Geschichten gehört, dass er, auch wenn er das Gelände selbst nicht kannte, eine gute Vorstellung von den Orientierungspunkten hatte. Noch am Tag davor hätte er sich nicht vorzustellen gewagt, dass er auch nur den Elfenbeinhintern der Schneiderpuppe berührte, doch jetzt hielt er warmes, lebendiges Fleisch in den Händen, leckte den Sirup und kostete die Beeren. Sehr schnell und zu seiner großen Erleichterung warf er die Bürde der Keuschheit in einem enormen Erguss ab. Da er nicht hören konnte, was sie ihm ins Ohr keuchte, schärfte er all seine anderen Sinne bis zum äußersten, und sie tat ihm den Gefallen, alle möglichen Stellungen einzunehmen, damit er sie eingehend erkunden konnte, bis er wieder in der Lage war, die soeben gemachte Erfahrung, nun allerdings mit etwas größerer Ausdauer, zu wiederholen. Er hätte gern noch weitergemacht, doch schon bald darauf sah sie auf die Uhr und sprang vom Sofa, da sie, wie sie sagte, das Essen auf dem Tisch haben müsse, wenn ihre Mutter und ihr Vater heimkämen. Während des Anziehens machten sie Pläne für die Zukunft. Sie (und dieses leere Haus) standen tagsüber immer zur Verfügung. Doch leider war das die Zeit, in der Shaman arbeiten musste. Sie einigten sich schließlich darauf, dass Lucille versuchen werde, jeden Dienstag und Donnerstag um zwei Uhr zu Hause zu sein, für den Fall, dass er es schaffte, in die Stadt zu kommen. An diesen Tagen, erklärte er ihr mit Sinn fürs Praktische, könne er gleich die Post mitnehmen. Sie war nicht weniger praktisch veranlagt und gestand ihm, dass sie Fondant liebe, aber den rosafarbenen und nicht den grünen, der nach Pfefferminz schmecke. Er versicherte ihr, dass er den Unterschied kenne. Auf der anderen Seite des Zauns angelangt, spazierte er mit neugewonnener Leichtigkeit an der langen Reihe der blütenschweren Fliederbüsche entlang und sog den schweren Duft ein, der für den Rest seines Lebens ein für ihn höchst erotisierender Geruch bleiben sollte.

Lucille mochte die Glätte seiner Hände, ohne zu wissen, dass sie nur deshalb so weich waren, weil sie die meiste Zeit mit dem lanolinreichen Fettschweiß der Schafwolle in Kontakt waren. Bis weit in den Mai hinein dauerte auf der Farm die Wollschur, wobei Shaman, Alex und Alden den größten Teil der Arbeit erledigten, weil Doug Penfield sich zwar lernwillig zeigte, aber die Schere sehr ungeschickt handhabte. Doug erhielt deshalb die Aufgabe, die Wolle zu zupfen und zu waschen. Wenn er auf die Farm kam, brachte er Nachrichten vom Weltgeschehen mit, darunter auch die, dass die Republikaner Abraham Lincoln als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatten. Und als die Wolle gerollt, verschnürt und zu Ballen gepackt war, wussten sie auch, dass die Demokraten in Baltimore zusammengekommen waren und nach hitziger Debatte Douglas zu ihrem Kandidaten ernannt hatten. Doch wenige Wochen später beriefen die Demokraten der Südstaaten einen zweiten Parteikongress ein und wählten den Vizepräsidenten John C. Breckinridge zu ihrem Präsidentschaftskandidaten, da er für die Erhaltung des Rechts auf Sklavenbesitz eintrat. Vor Ort waren sich die Demokraten einiger und bestimmten wieder John Kurland, den Anwalt aus Rock Island, dazu, Nick Holden seinen Sitz im Kongress streitig zu machen. Nick war Kandidat sowohl der American Party wie der Republikaner, und er legte sich schwer für Lincoln ins Zeug, weil er hoffte, von der Popularität des Präsidenten zu profitieren. Lincoln hatte die Unterstützung durch die Nichtswisser begrüßt, und das war der Grund, weshalb Rob J. erklärte, er könne den Mann nicht wählen.