Scarlet packte ihn mit der Kralle um die Taille und hob ihn aus der nach ihm springenden, schnappenden Meute. Richard keuchte, vom grimmigen Kampf erschöpft, während der Drache ihn zu einer Lichtung auf einem anderen Berg flog. Sachte setzte sie ihn auf dem Boden ab und landete.
Richard war den Tränen nahe. Er warf sich gegen ihre roten Schuppen, streichelte sie, legte den Kopf gegen sie. »Danke, meine Freundin. Du hast mir das Leben gerettet. Du hast vielen das Leben gerettet. Du bist ein Drache mit Ehrgefühl.«
»Wir haben eine Abmachung, das ist alles.« Sie schnaubte ein Rauchwölkchen. »Außerdem, irgend jemand muß dir schließlich helfen, allein gerätst du laufend in Schwierigkeiten.«
Richard mußte grinsen. »Du bist die schönste Bestie, die ich je gesehen habe.« Richard, der noch immer nicht wieder zu Atem gekommen war, zeigte auf die Hochebene. »Ich muß zum Palast des Volkes, Scarlet. Bringst du mich hin? Bitte!«
»Hast du deine Freunde nicht gefunden? Oder deinen Bruder?«
Er schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. »Mein Bruder hat mich verraten. Mich und alle anderen, und zwar an Darken Rahl. Ich wünschte, die Menschen hätten nur halb soviel Ehrgefühl wie Drachen.«
Scarlet stieß ein Knurren aus, das die Schuppen an ihrem Hals zum Vibrieren brachte. »Tut mir leid für dich, Richard. Steig auf. Ich bringe dich hin.«
Mit langsamen, steten Schlägen ihrer Flügel trug Scarlet ihn über das Meer aus Wolken, das die Azrith-Ebene bedeckte, und brachte ihn an den letzten Platz der Welt, den er aus freien Stücken aufgesucht hätte. Zu Pferd hätte ihn der Weg fast eine Tagesreise gekostet, auf dem Drachen dauerte er weniger als eine Stunde. Sie faltete ihre Flügel nach hinten und stieß hinab auf die Hochebene. Während des Sturzfluges zerrte der Wind an seinen Kleidern. Aus der Luft konnte Richard die wahren Ausmaße des Palastes des Volkes erkennen. Kaum zu glauben, daß er von Menschen erbaut worden war, selbst ein Traum schien ihm nicht gerecht zu werden. Er glich einer gewaltigen, zu einem einzigen Gebäudekomplex verschmolzenen Stadt.
Scarlet umkreiste die Hochebene, passierte Türme, Mauern, Dächer. Die Gebäude zogen in nicht enden wollender, schwindelerregender Vielfalt unter ihnen vorüber. Scarlet überflog die Außenmauer, stieß herab und landete flügelschlagend inmitten eines weitläufigen Innenhofs. Es waren weder Wachen noch sonst jemand zu sehen.
Richard glitt von ihren roten Schuppen herunter und landete auf den Füßen. Sie drehte den Kopf, neigte ihn zur Seite und sah ihn an. Ihre Ohren drehten sich nach vorn.
»Bist du sicher, daß ich dich hier allein lassen soll?« Richard nickte und senkte den Blick. Scarlet schnaubte. »Damit wären die sechs Tage dann vorbei. Wir sind quitt. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, wirst du Jagdbeute für mich sein.«
Richard lächelte sie an. »Das ist schon in Ordnung, meine Freundin. Aber dazu wirst du keine Gelegenheit haben. Ich werde noch heute sterben.«
Scarlet linste ihn aus einem ihrer gelben Augen an. »Laß es nicht soweit kommen, Richard Cypher. Ich würde dich gerne fressen.«
Richards Lächeln wurde breiter, als er eine glänzende Schuppe tätschelte. »Paß auf deinen Nachwuchs auf, sobald er geschlüpft ist. Ich würde ihn gerne sehen. Er wird bestimmt auch sehr schön sein, davon bin ich überzeugt. Ich weiß, du fliegst nicht gerne Menschen, weil das deinem Stolz widerstrebt, trotzdem möchte ich mich dafür bedanken, daß du mir die Freuden des Fliegens gezeigt hast. Ich betrachte es als eine Ehre.«
Sie nickte. »Das Fliegen macht mir auch Spaß.« Sie stieß ein Rauchwölkchen aus. »Es gibt nicht viele wie dich, Richard Cypher. Ich habe noch keinen gesehen, der es mit dir aufnehmen könnte.«
»Ich bin der Sucher. Der letzte Sucher.«
Sie nickte mit ihrem großen Kopf. »Paß auf dich auf, Sucher. Du hast die Gabe. Nutze sie. Nutze alles, was du hast, um dich zu wehren. Gib nicht nach. Laß dich nicht von ihm beherrschen. Wenn du stirbst, dann stirb kämpfend, mit allem, was du hast, all deinem Wissen. So wie es die Drachen tun.«
»Wenn es nur so einfach wäre.« Richard blickte zu dem roten Drachen hoch. »Scarlet, hast du Darken Rahl vor dem Fall der Grenze nach Westland geflogen?«
Sie nickte. »Mehrere Male.«
»Wohin hast du ihn gebracht?«
»Zu einem Haus, größer als alle anderen. Es war aus weißen Steinen, mit einem Schieferdach. Einmal habe ich ihn zu einem anderen Haus gebracht. Einem einfachen Haus. Dort hat er einen Mann getötet. Ich habe die Schreie gehört. Und dann noch einmal zu einem anderen einfachen Haus.«
Michaels Haus, das seines Vaters und sein eigenes.
Das zu hören tat weh. Richard starrte auf seine Füße und nickte. »Danke, Scarlet.« Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und sah zu ihr hoch. »Sollte Darken Rahl jemals wieder versuchen, dich zu beherrschen, dann hoffe ich, daß wenigstens dein kleiner Drache in Sicherheit ist und du bis zum Tod kämpfen kannst. Du bist zu erhaben, um von jemandem beherrscht zu werden.«
Mit einem Grinsen stieg Scarlet auf in die Lüfte. Richard sah ihr nach, als sie oben kreisend auf ihn herabblickte. Dann schwenkte ihr Kopf nach Westen, und der Rest folgte. Richard sah ihr noch ein paar Minuten nach. Sie wurde kleiner und kleiner. Dann drehte er sich zum Palast um.
Richard musterte die Wachen vor einem der Eingänge und bereitete sich auf einen Kampf vor, doch sie nickten ihm nur höflich zu. Er war ein zurückkehrender Gast. Die riesigen Hallen schluckten ihn.
Er wußte in etwa, wo sich der Wintergarten befand, in dem Darken Rahl die Kästchen aufbewahrte, und diese Richtung schlug er ein. Lange Zeit erkannte er die Hallen nicht wieder, doch nach einer Weile sahen einige bekannt aus. Er erkannte die Bögen und Säulen, die Stätten der Andacht. Er durchquerte den Korridor, an dem sich Dennas Quartier befand.
Er war in Gedanken wie benommen von der überwältigenden Entscheidung, die er getroffen hatte. Schon die Vorstellung, derjenige zu sein, welcher Darken Rahl die Macht der Ordnung überlassen würde, war überwältigend. Er wußte, daß er Kahlan dadurch vor einem schlimmeren Schicksal und viele andere vor dem Tod bewahrte, trotzdem kam er sich vor wie ein Verräter. Wie schön wäre es gewesen, wenn irgend jemand anderes Darken Rahl helfen könnte. Aber das war nicht möglich. Nur er allein befand sich im Besitz der Antworten, die Rahl brauchte.
An der Gebetsstätte mit dem kleinen Teich machte er halt, starrte auf das kräuselnde Wasser und beobachtete die Fische, die durch das Wasser glitten. Kämpfe mit allem, was du hast, hatte Scarlet gesagt. Was konnte er dadurch gewinnen? Was konnte überhaupt jemand dadurch gewinnen? Am Ende wäre es das gleiche oder schlimmer. Sein eigenes Leben durfte er aufs Spiel setzen, aber nicht das aller anderen. Und Kahlans schon gar nicht. Er war gekommen, um Darken Rahl zu helfen, und genau das mußte er tun. Sein Entschluß war gefaßt.
Die Glocke schlug zum Gebet. Richard beobachtete, wie sich die Menschen ringsum sammelten, sich verneigten und ihren Gesang anstimmten. Zwei Mord-Sith in roter Lederkleidung kamen herbei, blieben stehen und musterten ihn. Jetzt nur keinen Ärger. Er kniete nieder, berührte mit der Stirn die Steinplatten und stimmte seine Gebete an. Da er seinen Beschluß bereits gefaßt hatte, gab es keinen Grund zum Nachdenken, und er entließ seinen Verstand in die Leere. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Immer wieder sang er die Worte, ließ sich vollkommen gehen, ließ seine Sorgen los. Er wurde ruhig im Geist, fand den Frieden in seinem Innern und wurde eins mit ihm.
Ein Gedanke ließ ihm die Worte in der Kehle stocken.
Wenn er schon ein Gebet sprach, dann eines, daß ihm etwas bedeutete. Er veränderte den Text.